Wie steht Immanuel Kant zur antiken Tugendethik?

  • Von Michael Crass
  • 23. Februar 2017

In diesem Essay soll es nun darum gehen, wie diese antike Ethik aufgebaut ist, was und wie Kant diese Ethik kritisiert und wie plausibel seine Argumente sind.

Die antike Ethik

Nach Platon hängen Aufgaben und Fähigkeiten von Werkzeugen zusammen. Man sieht mit den Augen, man hört mit den Ohren und man beschneidet mit Winzermessern Reben. Bessere Werkzeuge gibt es für diese Aufgaben nicht. Diese Werkzeuge haben die Fähigkeiten für diese Aufgaben, sie haben besondere Fähigkeiten für ebendiese besonderen Aufgaben.[1] Ohne ihre Fähigkeiten könnten sie ihre Aufgaben nicht erfüllen, wie man mit blinden Augen auch nicht sehen kann. Gute Werkzeuge sind solche, die ihre Aufgabe gut erfüllen.

Platon sieht die Seele als das einzige Werkzeug, mit dem man die besondere Aufgabe des Lebens bewältigen kann. Um diese Aufgabe gut zu erfüllen, braucht sie Fähigkeiten wie die Gerechtigkeit. Mit diesen Fähigkeiten muss sie ihre Funktion, das Leben, gut erfüllen, damit man sie als Werkzeug als gut bezeichnen kann. Dieses Gutsein ist Tugendhaftigkeit, bestehend aus der Gerechtigkeit, der Tapferkeit, der Besonnenheit und der Weisheit.[2] Ein Leben, welches glücklich ist, ist also nur möglich, wenn die Seele tugendhaft ist.

Kants Kritik an der antiken Ethik

Für Kant gibt es nichts (moralisch) Gutes, außer man will es tun. Ein guter Wille ist notwendig für das moralisch Gute. Der gute Wille ist das Einzige, „was ohne Einschränkung für gut gehalten werden [kann][..]“[3], wobei die „Auferbietung aller Mittel, soweit sie in unserer Gewalt sind“[4] notwendig ist und nicht bloß der Wunsch selbst ausreicht.

Die Kategorien der Talente des Geistes und der Eigenschaften des Temperaments, unter welche neben den antiken Tugenden der Vernunft/Urteilskraft (Besonnenheit/Weisheit) und des Mutes noch Witz, Entschlossenheit und Beharrlichkeit fallen, sind nach Kant ebenso wenig notwendig oder gar hinreichend für das moralisch Gute wie es Glücksgaben wie Reichtum, Gesundheit oder Macht sind. Sie können hilfreich sein, benötigen allerdings immerzu den guten Willen, um gut zu sein.

Um zu zeigen, dass aus Tugendhaftigkeit das moralisch Gute nicht automatisch folgt, greift Kant sich in einem Beispiel eine Tugend heraus, die er in diesem Beispiel bejaht, und sieht eine moralische Verwerflichkeit der Handlung: So mag ein Bösewicht seine Tat mit kalten Blut, also tapfer oder besonnen, verrichten und wird durch diese Fähigkeiten seiner Seele kein bisschen weniger für böse gehalten.

Vielmehr ist es Kant zufolge so, dass die Glücksgaben, Tugenden und sonstigen Eigenschaften eines Menschen Werkzeuge für gutes Handeln sein können, wenn der gute Wille vorhanden ist, aber ebenso des guten Willens bedürfen, da ansonsten aus potenziell Gutem Schlechtes wird. Mut kann zu Übermut verkommen, wie auch aus Weisheit, Macht oder Fähigkeiten die Hybris werden könnte.

Das Vorhandensein einer Tugend alleine sorgt für Immanuel Kant nicht für ein gutes Handeln. Für ihn entspringt aus den Tugenden keine Regel, die Gutes bewirkt, wobei es auch nicht um das Ergebnis einer Handlung geht, da alleine das Wollen an sich gut ist.

Moralisch handelt dagegen ein Mensch, wenn er pflichtgemäß handelt und dabei die Pflicht über den eigenen Nutzen, auch das eigene Glück stellt. Ersehnt ein leidender Mensch den Suizid, ist es die Abwesenheit von Leid, was er wünscht. Moralisch ist es, wenn er sich am Leben erhält, ohne das Leben zu lieben, nicht wegen Furcht, sondern aus Pflicht, der Pflicht, am Leben zu bleiben.[5] Moral und Glück sind dabei keineswegs identisch.

Ebenso ergeht es einem Krämer, der bei der Preisgestaltung einen Spielraum nach oben aus mehreren Gründen nicht nutzen wollen könnte: aus ökonomischen Gründen beispielsweise, da er Kunden verlieren könnte, aus emotionalen Gründen, wenn er Gefühle für Kunden hätte, oder aus moralischen Gründen, da ein Kaufmann „aus Pflicht und Grundsätzen der Ehrlichkeit so verfahren [muss]“[6]. Einzig der letzte Grund macht für Kant aus dem gleichen Handeln mit gleichen Ergebnissen ein moralisch gutes Handeln. Handelt der Krämer aus Liebe, so muss der (geliebte) Kunde sich fragen, was passieren würde, wenn die Liebe erlischt. Handelt er aus ökonomischen Interessen und hält die Preise niedrig, da auf dem vollkommenen Markt Preise über dem Gleichgewichtspreis das Ende der eigenen Existenz bedeuten, so würde er als Monopolist seinen Gewinn in dem Maße steigen, in welchen er die Preise erhöht – zulasten der Kunden. Moralisches Handeln hat auch in diesem Fall nicht aus Gründen des eigenen Nutzens stattgefunden. Es ist das Handeln aus der o.g. Pflicht, welche das Belassen der Preise auf einem niedrigen Niveau moralisch gut macht. Handlungen mit demselben Resultat aus anderen Gründen heraus sind dagegen bloß pflichtgemäß, nicht jedoch moralisch. Wucher dagegen ist nicht einmal pflichtgemäß, moralisch durch die Missachtung der Pflicht sowieso nicht.

Die Plausibilität der Kritik

Wenn Kant im Beispiel mit dem Bösewicht die Tugenden auseinanderreißt und das Vorhandensein einer oder mehrerer, aber nicht aller, und zugleich das Amoralische sieht, ist er nicht notwendig im Widerspruch zu Platon:

„Sokrates: Überlege einmal, ob nicht das, was dir davon nicht als Wissen vorkommt, sondern als etwas anderes als Wissen, mal schadet, mal nutzt? Zum Beispiel: Mut, wenn Mut nicht Überlegung ist, sondern sozusagen eine Art Tollkühnheit, schadet sich dann der Mensch nicht, wenn er so ohne Verstand mutig ist? Wenn er es aber mit Verstand ist, nutzt es doch?“[7]

Nicht nur den Mut, sondern auch nachfolgend u.a. die Besonnenheit will Platon nicht alleine stehend sehen. Bloß Mut, oder bloß Besonnenheit oder auch bloß Intelligenz reicht nicht. Die Gesamtheit der Tugenden ist notwendig für moralisch Gutes. Alleine für sich ist eine einzige Tugend bloß notwendig, nicht aber hinreichend, um eine Handlung moralisch gut zu bewerten. Dass eine Tugend alleine ausreicht, kann nicht angenommen werden, hier schlägt Kants Kritik also fehl.

Die implizite Kritik an der direkten Beziehung zwischen Glück und Tugendhaftigkeit oder Moral ist allerdings kaum gescheitert. Weder der aus Pflicht richtig handelnde Krämer, noch der aus Pflicht richtig handelnde Suizid gefährdete Mensch handeln notwendig tadelhaft im Sinne der Tugenden, obwohl in beiden Fällen denkbar ist, dass ihr Lebensglück so nicht maximiert oder wenigstens auf einem halbwegs leidfreien Niveau gehalten wird.

Andere Kritik möglich?

Will man die antike Ethik herausfordern, so bietet sich als einer der möglichen Wege an, Fälle zu finden, in denen Bedingungen, die als hinreichend zum moralisch richtigen Handeln bezeichnet wurden, denen man aber nicht einmal mit größter Mühe das Label der Moral zugestehen würde. Anders als Immanuel Kant dies tat, müsste man allerdings alle notwendigen Bedingungen in einem Fall erfüllt sehen und dabei unmoralisches Handeln feststellen; nicht ausreichen würde es, wenn mindestens eine Tugend-Fähigkeit der Seele nicht ausgebildet ist. Obwohl die Realität Grautöne zulässt, ist es zunächst sinnvoll, wie Glaukon im Gespräch mit Sokrates die schärfsten Extreme einander gegenüberzustellen.[8]

Nimmt man als Grundlage die vier Tugenden Weisheit, Mut, Besonnenheit und Gerechtigkeit und untersucht verschiedene Fälle, in denen diese Tugenden gegeben oder nicht gegeben sind, so sind maximal 24 = 16 Fälle grundsätzlich verschiedene Konstellationen denkbar, von denen jede Fälle mit unterschiedlichen moralischen Bewertungen beinhalten kann. Interessant ist dabei allerdings nur die eine Fallgruppe, bei der jede Tugend gegeben ist. Falls es in dieser Fallgruppe wenigstens einen Fall gibt, in dem man dem Handeln nicht das Attribut moralisch zugesteht, so kann nicht mehr gelten, dass das tugendhafte Handeln immer moralisch ist.

Man kann sich einen tapferen, vernünftigen, ruhigen und weisen Alleinherrscher vorstellen, der nicht ungerecht sein muss, um sein Handeln als unmoralisch zu bewerten. Ein wohlmeinender Alleinherrscher kann Gerechtigkeit unter seinen Untertanen und im Handeln mit Untertanen walten lassen. Allein die Tatsache, dass er – ob die ihm untergebenen Handwerker, Bauern und übrigen Menschen es gutheißen oder nicht – alleine (und) über andere herrscht, darf Zweifel an der Moral wachsen lassen. Heutzutage ist Demokratie größtenteils stark mit einem Sollen oder Müssen verknüpft.

Auch kann man sich einen Fall denken, in dem eine Frau die lebenserhaltenden Maschinen ihrer im Koma liegenden Lebensgefährtin abschaltet. Angenommen, die Lebensgefährtin wollte dies so in einem solchen Fall und die Frau hat trauernd, bedacht und besonnen Interessen und Argumente abgewogen und letztendlich den Entschluss gefasst. Man braucht ihr nun Gerechtigkeit, Mut, Weisheit oder Besonnenheit nicht absprechen, obwohl ihr Verhalten nicht problemlos als moralisch bezeichnet werden würde. Allerdings stellen sich hierbei zwei Fragen: Wie sieht hier das moralisch gute Handeln aus, und wie gerecht ist jede dieser Optionen? Ist es gerecht, Bewusstlosen das Leben zu nehmen, ohne ein aktuelles Einverständnis zu haben? Ist es gerecht, den früheren, bekundeten Willen zu missachten?

Die Frage, die man an die antike Ethik jedoch wirklich richten sollte, ist folgende: Folgt aus der Gesamtheit der Tugenden auch wirklich Glück, im Sinne guter Augenblicke oder einem langfristen Glück im Leben? Im Fall der Komapatientin bzw. der zum Warten oder Abschalten verdammten Lebensgefährtin ist es schwer denkbar, dass das Abschalten nicht Schuldgefühle verursacht, die bis zu ihrem letzten Atemzug anhalten würden. Ein glückliches Leben sieht anders aus.

Eine große Schwierigkeit bei der Kritik an der antiken Tugendethik ist allerdings, dass die Frage der Gerechtigkeit nur sehr schwierig von der der Moral zu trennen ist, wie man am Fall der Komapatientin sieht. Ebenso schwierig sind (andere) moralische Dilemmata, bei denen auch tugendhafte Menschen sich fragen müssen, ob man einen Menschen aktiv umbringt, um eine größere Gruppe von Menschen zu retten. Die Tugend des Mutes verlangt bloß, es umzusetzen trotz innerer Hemmungen; die Besonnenheit rät zu keinem voreiligen Handeln und einem ruhigen Bedenken, während die Weisheit möglicherweise viel Wissen und einen sinnvollen Umgang damit bringen. Die Gerechtigkeit dagegen fordert einen blinden Austausch von Interessen, wobei viele unterschiedliche Begriffe von Gerechtigkeit denkbar sind.

Fazit

Die Tugendethik lässt sich leicht kritisieren, wenn man bezweifelt, dass aus einem moralisch guten Leben ein glückliches Leben folgt. Dagegen ist es mit unseren Begriffen von Moral und Gerechtigkeit schwierig, zu versuchen, was Kant in seinem Bösewicht-Beispiel versuchte: zu zeigen, dass aus den Tugenden nicht notwendig moralisch Gutes folgt. Es sind nicht einzelne Tugenden, die beliebig zu etwas führen, was unserem Begriff von Moral gerecht wird, sondern möglichweise die Gesamtheit der vier Tugenden Platons. Mindestens jedoch ist es schwierig, unseren Begriff von Gerechtigkeit von unserer Moralvorstellung sauber zu trennen. Es bleibt die Frage, ob klar bestimmbar ist, was ethisch geboten ist und wie eine Abweichung vom Gerechten aussehen kann.

  • [1]Vgl. Platon, Der Staat. 352e-353b
  • [2]Vgl. Ricken, Friedo: Tugend. In: Jordan, Stefan(Hrsg.); Nimtz, Christian(Hrsg.): Lexikon Philosophie. 100 Grundbegriffe. Stuttgart 2011, S. 269-271.
  • [3] Kant: GMS, AA04: 393.
  • [4] Kant: GMS, AA04: 394.
  • [5] Vgl.Kant: GMS, AA04: 397-398.
  • [6] Ebd.
  • [7] Platon, Menon: 88b-e
  • [8]  Vgl. Platon, Der Staat. 360e

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