Welchen Sinn hat das Traumargument von René Descartes?

  • Von Michael Crass
  • 22. Februar 2017

Was René Descartes erreichen will.

„Wer nichts weiß, muss alles glauben“, meinte die Schriftstellerin Marie von Ebner-Eschenbach. Wissen ist daher wichtig. Da man allerdings, wie René Descartes selbst auch, manchmal feststellt, dass man zuvor etwas Falsches geglaubt hat, ist die Frage zu stellen, was man überhaupt wissen kann. Im Folgenden soll es somit darum gehen, wie er dieses Problem löst und welche Bedeutung dabei einem zentralen Argument, dem Traumargument, zukommt. Dabei wird zunächst dargestellt, was das Ziel von René Descartes ist und wie er vorgeht. Darauffolgend wird gezeigt, welche Rolle das Traumargument in seiner Argumentation spielt.

Descartes will „den Umsturz aller [seiner] Meinungen vornehmen“. Dazu sieht er sich zunächst gezwungen, zu prüfen, woran man alles zweifeln kann. Es ist nicht das Ziel Descartes‘, zu zeigen, dass man überhaupt nichts wissen kann, da er „Festes und Bleibendes in den Wissenschaften errichten“ will. Er zweifelt nicht des Zweifelns wegen, sondern um ein Fundament für Wissen zu errichten. Dazu will Descartes alles beseitigen, was nicht geeignet ist, ein solches Fundament zu bilden. Am Ende der Zweifelsoperation soll etwas stehen, das absolut unzweifelhaft ist und taugt, um darauf aufzubauen.

Wie René Descartes ein sicheres Fundament finden will.

Descartes möchte alle seine Meinungen überprüfen und dabei nur unzweifelhaft wahre Meinungen bestehen lassen. Dazu verlangt er von sich nicht, Meinungen zu widerlegen. Hier unterstreicht Descartes dagegen noch einmal sein Anliegen, nicht ewig zweifeln zu wollen, sondern an ein Ziel zu gelangen, zu einem Fundament für Wissen: „Aber braucht man sie [die Anlässe zum Zweifeln] darum nicht einzeln durchzugehen; das wäre eine endlose Arbeit.“ Anstelle des Widerlegens von Aussagen will er sich darauf beschränken, nur solche bestehen zu lassen, welche er nicht bezweifeln kann. Hierzu nimmt sich Descartes allerdings nicht einzelne Meinungen vor, sondern die Wege, mit denen er zu ihnen selbst gelangt ist.

Er stellt während seiner Erläuterung der Methodik fest, dass seine Meinungen allesamt mittelbar oder unmittelbar auf Wahrnehmungen der Sinne zurückzuführen ist und er von diesen schon getäuscht wurde. Seine Klugheitsregel dazu lautet allerdings, dass man nicht dem trauen darf, was einen schon mal getäuscht hat. Berücksichtigt man dabei nicht exakt, wie Descartes dies formuliert hat, so müsste man folgendermaßen schließen:

Dabei steht das Prädikat G für das Getäuscht-haben und Methode-sein, N für das Eine-nichtvertrauenswürdige-Methode-sein, M für das Meinung-sein, T=\lnotN, S für Von-den-Sinnen-abhängig-sein. Die Konstante s steht hierbei für das konkrete Prinzip (Methode), mit den Sinnen zu einer Meinung zu gelangen. Von der Konklusion 1 ausgehend wurde der Term Ns ersetzt, ohne Bedeutung zu verändern, da dies aus Gründen der Übersichtlichkeit nicht schon bei Prämisse 1 eingesetzt ist.

Es ist dabei allerdings zweierlei festzustellen: Erstens würde man dabei eine Konklusion erhalten, die wie die Sokrates zugeschriebene Aussage „Ich weiß, dass ich nichts weiß“ eine Kontradiktion ist. Damit würde Descartes sein Ziel, ein Fundament zu errichten nicht erreichen. Zweitens will René Descartes keineswegs nichts mehr trauen, was ihn schon einmal getäuscht hat, sondern bloß „denen niemals volles Vertrauen zu schenken, die uns nur ein einziges Mal getäuscht haben“, wobei das Adjektiv „voll“ eine Bedeutung hat. Damit gibt es noch Raum für Vertrauen für Methoden, welche schon einmal getäuscht haben, wenngleich Zweifel angebracht sind und nach seiner ersten Regel damit darauf bauende Meinungen verworfen werden dürfen.

Der Nutzen dieses Spielraumes ist, dass damit weitere Überlegungen sinnvoll sind und gemacht werden sollen. Im Stile einer Erörterung führt er verschiedene Argumente auf, die zunächst alles verwerfen, was bei ihm bis zu jenem Punkt noch Bestand hatte. Darauf folgend findet er jedoch Gegenargumente, die ihrerseits wieder auf Gegenargumente treffen. Dabei steht Descartes allerdings still, sondern macht Fortschritte, da er Einwände einwirft, sie prüft und nach Gegenargumenten immer etwas scheinbar diesen Einwänden Erhabenes herausgefiltert hat. Jeder Einwand, wie auch das Traumargument, nagt an der Menge an Meinungen, die er bei Beginn der ersten Meditation ungeprüft hatte. Damit ist jeder Einwand ein weiterer Schritt zum Fundament. Eine Aussage soll am Ende allen Einwänden, allen Zweifeln widerstehen und Grundlage für die Wissenschaften sein.

Argument der Sinnestäuschungen.

Notwendig ist unter allen denkbaren Zweifeln eben auch das Traumargument. Dafür ist es erforderlich zu sehen, was Descartes bis zu diesem Einwand noch nicht bezweifelt hat. Das erste konkrete Argument der Sinnestäuschungen folgt der allgemeinen Feststellung, dass er schon von Sinnen getäuscht wurde, und er, der Klugheitsregel folgend, ihnen kein volles Vertrauen mehr schenken sollte.

Den ersten konkreten Anlass zum Zweifeln an den Sinnen findet Descartes in den fernerliegenden Gegenständen, vermutlich am optischen Sinneswahrnehmungen. Allerdings hat er dafür sogleich ein Gegenargument: Er müsste sich „denn mit gewissen Verrückten vergleichen“, wenn er auch daran zweifeln würde, dass er sich bei dem Papier, welches er haptisch wahrnimmt, dem Winterrock, den er anhat, und weiterem täuscht. Er würde sich in einer Reihe mit Verrückten sehen, die glauben, sie „trügen Purpur, während sie nackt sind“.

So ganz misstrauen kann er seinen Sinnen also nicht. Über eine größere Distanz kann er nicht zweifelsfrei seinen Wahrnehmungen vertrauen, am Nahegelegenen jedoch vermag er nicht zu zweifeln – dazu müsste er verrückt sein. Von allen Meinungen also, die er hat, scheitern an diesem Argument die Allerwenigsten. Er müsste Vieles für wahr halten, wenn er nicht noch weitere Argumente hätte. Ein festes Fundament wäre für ihn, so er denn nicht verrückt ist, schon alles Wahrnehmbare, was nicht klein und fernliegend ist.

Argument des Traumes.

Bevor René Descartes allerdings zu einer unzweifelhaften Meinung findet, hat er noch andere Gründe, an Meinungen zu zweifeln. Einer dieser Gründe ist sein Traumargument. Diesen Einwand hält er nun dem sinnlich Wahrnehmbaren vor. Er stellt fest, dass er im Traum schon einmal Dinge erlebt hat wie im Wachzustand. Er hat schon „[…] Unglaublicheres [erlebt], im Traume wie jene im Wachen“, aber auch schon Gewöhnliches geträumt, was nicht wahr gewesen ist. Diesem Einwand stellt er nun allerdings entgegen, dass er mit einer Deutlichkeit wach ist, wie er sie nicht träumen könnte. Darauffolgend stärkt Descartes wieder seinen Einwand durch das ihm bekannte Gefühl von einer solchen Überzeugung, wach zu sein, geträumt zu haben. Damit besteht das Traumargument und Sinneswahrnehmungen müssen bezweifelt werden.

Descartes argumentiert dabei so:

  • P1: Er erlebt Gewöhnliches im Traum wie im Wachzustand. (Er liegt entkleidet im Bett, während er sich im Traum noch bekleidet am Ofen sitzend glaubte.)
  • P2: Wenn er im Traum mit derselben Qualität Erlebnisse hat wie im (vermeintlichen) Wachzustand, kann er Traum von Wachzustand nicht unterscheiden. (s.o.: glaubte)
  • K1: Er kann Traum und Wachzustand nicht unterscheiden. („[…] wird mir ganz klar, daß nie durch sichere Merkmale der Schlaf vom Wachen unterschieden werden kann, […]“) Modus Ponens
  • P3: Wenn er nicht unterscheiden kann zwischen Traum und Wachzustand, kann er den Sinnen nicht trauen (da diese im Traum wie im Wachzustand dieselben Eindrücke vermitteln: „[…] daß ich gerade dadurch fast in der Meinung zu träumen bestärkt werde.“).
  • K2: Er kann seinen Sinnen nicht vertrauen. („Wohlan denn, wir träumen, und unwahr sollen alle jene Einheiten sein: daß wir die Augen öffnen, den Kopf bewegen, die Hände ausstrecken, ja sogar, daß wir solche Hände […] haben“) Modus Ponens

Dieses Argument von Descartes lässt sich verkürzt so darstellen: Wenn ich nicht unterscheiden kann zwischen Traum und Realität, kann ich meinen Sinnen nicht trauen. Ich kann nicht unterscheiden zwischen Traum und Realität, da ich Erlebnisse im Traum habe wie ich sie in der Realität erlebt habe. „[Es ist] kein Merkmal gegeben […], um den Traum vom Wachen sicher zu unterscheiden.“

Den Einwand seines Traumargumentes überleben Meinungen von Farben, Körpern und noch weitere wie die Mathematik: „[…] Malereien […], die nur nach dem Vorbilde wirklicher Dinge gebildet werden konnten[.] […] so müssen doch sicherlich mindestens die Farben wirklich sein“ So verfährt Descartes auch mit Qualitäten und Quantitäten von Dingen, die ein wirkliches Vorbild haben müssen, um träumbar zu sein. Es überleben das Traumargument das Wesen aller Inhalte von Träumen und Realität, wie auch die Mathematik, welche zum Wesen der Dinge noch ihr Verhältnis zueinander darstellt und nicht anders sein kann als sie ist: „Denn ob ich nun schlafe oder wache: zwei und drei geben zusammen fünf, und das Quadrat hat nicht mehr als vier Seiten. Es scheint unmöglich, daß so offenbare Wahrheiten in den Verdacht der Falschheit geraten könnten.“

Mit dem Stärken aller nach dem Traumargument noch unbezweifelbaren Meinungen wird der Weg für das stärkste Argument bereitet, dem bösen Gott oder „Betrüger“. Dieses letzte Argument  ist der vorrangige Grund zum Bezweifeln aller seiner Meinungen. Das Traumargument ist nicht nötig, da die Menge aller mit dem Traumargument bezweifelbaren Meinungen eine echte Teilmenge der Menge der mit dem Dämonargument bezweifelbaren Meinungen ist. Das Traumargument hat dennoch zwei Funktionen: Einerseits verdeutlicht es einen vom Dämonargument verschiedenen Weg, an sinnlichen Meinungen zu zweifeln – auch für den Fall, das Dämonargument würde angegriffen werden oder scheitern. Andererseits werden wir damit langsam, Stück für Stück „allen Vorurteilen befreit“, da nachfolgende Argumente immer stärker sind.

Fazit.

Die Zweifelsoperation von René Descartes hat zum Ziel, ein festes Fundament für Wissen freizulegen. Alle Meinungen, die bezweifelbar sind, werden entfernt, sodass das rationalistische Fundament freiliegt, auf dem man aufbauen kann. Das Traumargument selbst hat die Rolle, einen berechtigten Einwand gegen die Empirie als Fundament zu liefern. Das diesem Argument chronologisch nachgeordnete Dämonargument erledigt dies allerdings auch.


Literatur: Daniela Strigl: Berühmt sein ist nichts: Marie von Ebner-Eschenbach - Eine Biographie, Salzburg, Vorwort. René Descartes: Meditationen über die Erste Philosophie, Stuttgart 1986, S. 63ff.

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