Sind Religionen Weltanschauungen?

  • Von Michael Crass
  • 22. Januar 2025

Unter "Weltanschauung" wird in der Regel verstanden, wie ein Mensch die Welt und das Dasein mit seiner Rolle in ihr sieht, insbesondere mit Blick auf Sinnfragen. Es ist ein Glaubenssystem.

So ähnlich der Große Brockhaus (In 12 Bänden von 1957):

"Weltanschauung, ein bereits von W. v. Humboldt verwendeter Begriff, der in heutiger Bedeutung eine Gesamtauffassung von Wesen und Sinn der Welt und des menschl. Lebens meint; [...] Eine W. enthält auch moralische Stellungnahmen und Imperative, die sich in Handlungen auswirken, gelegentlich aus als dichterische, künstlerische, philosophische, religiöse W. u.a. [...]" (Weltanschauung, S. 425)

Nach dieser Definition sind auch Religionen Weltanschauungen.

Das Grundgesetz und die Weimarer Reichsverfassung

Wer Religionen nicht als Weltanschauungen verstehen möchte, weiß das Grundgesetz auf seiner Seite. Das Grundgesetz unterscheidet zwischen Religionen und Weltanschauungen:

"Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich." (Art. 4 I GG)

Wenn nach dem Grundgesetz Religionen nicht anderes als Weltanschauungen wären, könnte man im Grundgesetz auf diese redundante Information verzichten und bloß "weltanschaulichen Bekenntnisses" schreiben. Aber das Grundgesetz unterscheidet Religionen von Weltanschauungen. Ein Unterschied wird im zweiten Absatz des Artikels klar:

"Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet." (Art. 4 II GG)

Von Weltanschauungen ist nichts zu lesen. Entweder kann man, dem Grundgesetz nach, nur Religionen ausüben, oder nur das Ausüben religiöser Anschauungen ist geschützt (nicht-religiöse sind wohl nicht mitgemeint (s.u.).

"Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden." (Art. 3 III GG)

Hier werden Weltanschauungen nicht einmal erwähnt. Entweder darf man aufgrund seiner Weltanschauung benachteiligt werden, oder man muss diese als eine politische oder religiöse Anschauung verstehen.

Mit dieser grundgesetzlichen Unterscheidung in der Bundesrepublik Deutschland gilt die Unterscheidung aus der Weimarer Republik weiter. Artikel 140 GG übernimmt aus ihrer Verfassung entscheidende religionspolitische Artikel:

"Die Bestimmungen der Artikel 136, 137, 138, 139 und 141 der deutschen Verfassung vom 11. August 1919 sind Bestandteil dieses Grundgesetzes." (Art. 140 GG)

Absatz 7 von Artikel 137 der Weimarer Reichsverfassung lautet:

"Den Religionsgesellschaften werden die Vereinigungen gleichgestellt, die sich die gemeinschaftliche Pflege einer Weltanschauung zur Aufgabe machen." (Art. 137 VII WRV)

Damit gilt in Deutschland seit 1919 verfassungsrechtlich, dass Weltanschauungen von Religionen zu unterscheiden sind.

Parteien

In dieser Tradition und sicherlich stets mit Blick auf die grundgesetzliche Unterscheidung werden Religionen und Weltanschauuungen auch in der  FDP unterschieden. Auf Bundesebene gibt es den Bundesfachausschuss Kirche, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften, der dem Namen nach sogar zwischen Kirchen und anderen Religionsgemeinschaften unterscheidet (fdp.de). Die hessische FDP unterscheidet dem Namen des Landesfachausschusses Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften wie das Grundgesetz nur Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften (fdp-hessen.de). Oft findet man allerdings im Namen solcher Einrichtungen lediglich den Fokus auf die Kirche bzw. Religion: Die FDP Rheinland-Pfalz hat den AK Kirche (fdp-rlp.de), in Baden-Württemberg hat die FDP den LFA Liberale & Kirchen (fdpbw.de) und die hessische CDU hat den Landesfachausschuss für Kirche und Religion (cduhessen.de).

Eine Perspektive der Evangelischen Kirche

Für die Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen gab Michael Utsch 2024 die zweite und erweiterte und aktualisierte Auflage des "ABC der Weltanschauungen" heraus. Im Vorwort schreibt Utsch:

"Wir wünschen diesem ABC, dass es als Verständnishilfe dient und die eigene Sprachfähigkeit im Dialog mit anderen Glaubensüberzeugungen verbessert." (S. 6)

Was in diesem Buch aufgeführt wird, ist also eine Weltanschauung und zugleich eine andere Glaubensüberzeugung als die der christlichen Kirche (hier: evanglisch). Was wird also in diesem ABC aufgeführt?

Achtsamkeit, Anthroposophie und Christengemeinschaft, Astrologie, Bruno Gröning-Freundeskreis, Buddhismus im Westen, Engel, Esoterik, Evangelikale Bewegung, neue Freikirchliche Gemeinschaftsbildungen, christlicher Fundamentalismus, Gülen-Bewegung (Hizmet), Homöopathie, Islam, Jehovas Zeugen, Konfessionslosigkeit und Atheismus, Kunstreligion, Life-Coaching, Meditation, Mormonen (Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage), Naturspiritualität / Ökologismus, Neugeist-Bewegung, germanische Neuheiden (Ásatrú), Nihilismus, Okkultismus und Satanismus, Pfingstbewegung, Rechtes Christentum, Säkularisierung, Scientology, Spiritualität, Verschwörungstheorien, Yoga

Kurzum: Alles, was dem Herausgeber dubios erscheint. Um hier nur die harmlosesten Gruppen zu nennen:

Islam:

"Die Unterscheidung zwischen Islam und Islamismus ist einerseits problematisch, nämlich wenn damit suggeriert wird, Islamismus gehöre nicht zum Islam. Ein solches Urteil lässt sich weder politisch im Hinblick auf die breiten, in vielen Weltgegenden dominanten radikalen Ausprägungen des Islam, noch religionsgeschichtlich, noch im Hinblick auf die Quellen begründen, da eine entsprechende Hermeneutik die Begründung des radikalen Islam aus den autoritativen Quellen ermöglicht. " (Seite 121)

Atheismus:

"Atheismus im Sinne einer öffentlich geäußerten, engagierten Ablehnung Gottes hat in Deutschland nur wenige Sympathisanten. Es gibt eine auffällige Zurückhaltung gegenüber der Selbstcharakterisierung als Atheist – wahrscheinlich auch, weil negative Konnotationen mitschwingen" (Seite 138)

Yoga:

"Immer wieder kam und kommt es in solchen Gruppierungen vereinzelt zu Fällen spiritueller (und finanzieller) Abhängigkeit und zu sexualisierter Gewalt durch charismatische Führungspersonen, die das in der klassischen Yoga-Initiation unabdingbare, aber strukturell ungleiche Guru-Schüler-Verhältnis sowie ihre Machtstellung innerhalb verschwiegener Gruppen skrupellos ausnutzen." (Seite 296)

Weltanschauungen sind demnach nichts Seriöses. Echte Religionen sind keine Weltanschauungen. 

Katholische Perspektiven

Auch Katholiken distanzieren sich davon, eine Weltanschauung zu sein. Der Begriff der Weltanschauung findet sich stets in der Nähe von obskuren Sekten. Es lauern im Bereich der Weltanschauungen Gefahren, Konfllikte und Risiken:

"Die Aufgabe des Arbeitsbreichs "Weltanschauungsfragen und Sekten" besteht in der kritisch-konstruktiven Wahrnehmung und differenzierten Bewertung dieser Entwicklungen.

Faire und sachliche Information über "die Anderen" ist die Voraussetzung für das, was christlicher Glaube und was Christen dazu zu sagen haben. Das christliche Welt-, Menschen- und Gottesbild bildet für Christen die Basis für Auseinandersetzung mit neuen religiösen Bewegungen, Phänomenen und Entwicklungen.

Religiöse Pluralisierung darf zwar nicht ausschließlich und nicht in erster Linie unter dem Gesichtspunkt ihrer Sozialverträglichkeit bzw. ihres Konfliktpotentials betrachtet werden. Dort, wo ein erhöhtes Konfliktpotential erkennbar wird, ist es jedoch erforderlich, auf konkret zu benennende Risiken aufmerksam zu machen und vor Gefahren zu warnen, die mit einzelnen weltanschaulichen Angeboten verbunden sein können." (https://www.bistum-trier.de/glaube-und-seelsorge/glaube-im-dialog/weltanschauungen-sekten/wer-wir-sind-was-wir-tun/, Formatierungen des Autors)

So auch auf katholisch.de:

"Der Markt wird unüberschaubarer. Neben Menschen, die fest in einer religiösen Gemeinschaft verwurzelt sind, finden sich auch solche, die heute innere Erleuchtung in buddhistischer Meditation suchen und sich morgen für Engelsbotschaften begeistern – wobei das eine das andere nicht ausschließen muss. Der Trend zur Patchworkreligiosität sorgt für eine unüberschaubare Fülle und alle möglichen Kreuzungen von Glaubensvorstellungen und Sinnangeboten.

In diesem Kontext versuchen kirchliche Weltanschauungsarbeiter Betroffenen zu helfen. Ihre Klienten sind weniger Sinnsucher oder Menschen, die sich einer Gruppe angeschlossen haben, sondern vornehmlich besorgte Angehörige und Freunde. Häufig helfen diesen schon sachliche Informationen weiter, wenn sie besorgt fragen: "Ist das eine Sekte?" Weiterführend kann geklärt werden, welche Hintergründe einer religiös-weltanschaulichen Neuorientierung zugrunde liegen und wie trotz unterschiedlicher Meinungen der Kontakt, die Beziehung nicht abbrechen muss. Da hinter solchen "Fällen" oft schon länger bestehende Probleme und Konflikte stehen, ist kirchliche Weltanschauungsberatung auch gerne bereit, an andere kompetente Stellen der Ehe-, Familien- und Lebensberatung weiterzuvermitteln.

Wesentlich ist: Kirchliche Weltanschauungsberatung versteht sich als diakonischer Dienst am Menschen; sie berät – trotz der christlichen Einstellung der Berater – ergebnisoffen. Sie arbeitet zudem – bei der Unübersichtlichkeit des Sachgebiets geht das gar nicht anders – im engen Zusammenwirken von katholischen, evangelischen, staatlichen und privaten Stellen im ganzen deutschen Sprachraum." ( https://www.katholisch.de/artikel/26-sekten-und-weltanschauungen, Formatierungen des Autors)

Dort wird auch auf den "Fachbereich Sekten- und Weltanschauungsfragen" der Erzdiözese München und Freising verwiesen.

Weltanschauungen sind aus der Perspektive der christlichen Kirchen immer die gefährlichen Anderen, als Gegensatz zu Katholiken, Protestanten und dem Staat.

Politische Vereinnahmung und juristische Bewertung des Begriffs

Patrick Hoffmann argumentiert 2012 in seiner Dissertation ("Die Weltanschauungsfreiheit", S. 54f.), dass der Begriff der Weltanschauung aufgrund der schwierigen Abgrenzung zwischen Weltanschauungsfreiheit und politischer Betätigung problematisch sei. Dieses Spannungsfeld sei wesentlich durch die Begriffsgeschichte des Wortes „Weltanschauung“ geprägt, das seit dem späten 19. Jahrhundert bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts eine weite populär- und pseudowissenschaftliche Verbreitung erfuhr. Insbesondere die ideologische Nutzung des Begriffs im Nationalsozialismus führte dazu, dass dieser noch heute im allgemeinen Sprachgebrauch fortwirkt. Eine präzise Unterscheidung zwischen „Weltanschauung“, „Ideologie“ und „politischem Leitbild“ erscheine daher auf den ersten Blick schwierig. Es wurden unterschiedlichste Strömungen unter dem Begriff „Weltanschauung“ zusammengefasst. Entsprechend sprach man von einer liberalen, christlichen, marxistischen und nationalsozialistischen Weltanschauung. Auch in der Gegenwart sei es möglich, Politik auf der Grundlage christlicher oder nationalsozialistischer Weltanschauungen zu denken.

Juristisch "haben die Begriffe „Weltanschauung“ und „Religion“ keine Schnittmenge. Weltanschauung ist in diesem Sinne, entgegen anderer Auslegungsmöglichkeiten, kein Oberbegriff, sondern ein aliud zum Begriff der Religion." (Ebd., S. 320.). Weltanschauungen sind (juristisch) ein Gegenbegriff zur Religion. Damit genießen sie auch einen geringeren Schutz:

"Eine allgemeine weltanschauliche Handlungsfreiheit, sein Leben nach einer weltanschaulichen Überzeugung zu gestalten, besteht nicht." (Ebd.)

Fazit

Juristen argumentieren juristisch plausibel auf Grundlage der bestehenden Gesetze (inkl. Grundgesetz) dafür, dass Religionen etwas anderes seien als Weltanschauungen. Das nutzt den großen anerkannten Religionen. Diese wollen jede andere Anschauung und jede andere Gruppierung delegitimieren. So behalten sie ihren besonderen rechtlichen Stellenwert, der sich auch finanziell auswirkt.

Man müsste die Geschichte der Weimarer Reichsverfassung blicken, um der juristischen Unterscheidung von Weltanschauungen und Religionen und damit auch der Benachteiligung des Atheismus gegenüber den Staatsreligionen auf den Grund zu gehen.

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