Rezension: Qianziwen - Der Tausend Zeichen Klassiker
Um eine chinesische Zeitung verstehen zu können, benötigt man einen aktiven Wortschatz von 6.000 Zeichen, was bedeutet, dass mit den 1.000 Zeichen des von Zhou Xingsi um 510 verfassten Klassikers 1/6 des Alltagschinesisch erlernt werden können. Anders als im Deutschen werden im Chinesischen die Wortbedeutungen jedem einzelnen Zeichen direkt zugeordnet. Die Satzbedeutung erschließt sich damit nicht mithilfe festgelegter grammatikalischer Regeln, sondern aus dem Kontext. Das gibt Autoren wie Zhou (im Chinesischen wird der Familienname zuerst genannt) die Freiheit, mit 1.000 verschiedenen Zeichen nicht nur einen begrifflich zusammenhängenden, sondern auch lyrisch gehaltvollen Text abzufassen – der Legende nach soll Zhou diesen Text innerhalb nur einer Nacht geschrieben haben. Der Tausend Zeichen Klassiker ist das herausragendste Sprachexperiment innerhalb der antiken chinesischen Tradition, Kindern im gleichen Atemzug des Federstrichs zusammen mit Sprachwissen auch Kultur zu vermitteln.
Besonders interessant ist die erste offizielle Komplettübersetzung des Tausend Zeichen Klassikers gerade deshalb, weil sie den kürzesten Weg ins „Reich der Mitte“ auf dem deutschen Markt für übersetzte chinesische Literatur darstellt. Die ebenfalls von Eva Lüdi Kong übersetzte und ebenso bei Reclam erschienene Reise in den Westen stellt mit 1.000 Seiten eine Mammutaufgabe für den Leser dar. Die Geschichte der Drei Reiche ist fast doppelt so umfangreich. Ohne Allgemeinwissen über China artet das Leseerlebnis klassischer chinesische Literatur in Fußnotenkramerei über dicken Folianten aus. Ganz anders der Tausend Zeichen Klassiker: Er ist nur 150 Seiten dick, handlich im Format 12,5 x 20,5 cm und nahezu perfekt gelayoutet. Auf der jeweils linken Seite befinden sich farbige chinesische Holzschnitte mit Kommentar und auf der rechten Seite die originalen Zeichen, die Pinyin-Umschrift, die wörtliche Übersetzung und Lüdi Kongs lyrische Übersetzung. Ein Anhang über die Geschichte und kalligraphische Variationen runden das Paket ab. Sie sind eine nette Beigabe. Für angehende Sinologen am nützlichsten: die Bibliographie.
Verbleiben wir bei dem Begriff „nützlich“, um den sich die größten chinesischen Philosophen, wie etwa Zhuangzi, stritten. Der Tausend Zeichen Klassiker ist ein nützliches Komplementärwerkzeug für den Spracherwerb. Am wichtigsten ist dabei die Darstellung der Zeichen in der Pinyin-Umschrift. Dadurch kann jedes Zeichen ausgesprochen, sowie über eine Tastatur mit lateinischen Buchstaben bei Wörterbuch-Portalen, wie www.leo.org abgerufen werden, wo sich mehr Informationen zu Aussprache und Schriftführung finden lassen. Wer Lüdi Kongs Übersetzung zu blumig findet, kann sich aus den einzelnen Wortübersetzungen in der linken Spalte seinen eigenen Tausend Zeichen Klassiker zusammenreimen. Die Originalzeichen könnten für Schriftinteressierte ein wenig größer sein, dazu hätte das Format der Publikation ein wenig länger und breiter ausfallen müssen, womit es immer noch handlich geblieben wäre. Ein Pluspunkt ist der feste Leineneinband. Das ist bei einer Monographie für 25 € leider keine Selbstverständlichkeit mehr und zeigt die Wertschätzung des Verlags für das Thema.
Die Auseinandersetzung mit chinesischer Sprache und Kultur in Europa ist so prominent wie seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts nicht mehr, als die ersten, insbesondere deutschen und französischen Übersetzer wie Richard Wilhelm die Sinologie popularisierten. Mittlerweile sind Übersetzungen chinesischer Klassiker als Highlights fest im Verlagsprogramm verankert. Wenn sich künftige Publikationen an der Qualität des Tausend Zeichen Klassikers orientieren, kann der Weg für interessante chinesische Publikationen auch fernab des klassischen Kanons nachhaltig gefördert werden.
Qianziwen – Der 1000-Zeichen-Klassiker | |
ISBN: 978-3-15-011177-2 Übers. und Komm.: Eva Lüdi Kong Erscheinungsjahr: 2018 |
Seitenanzahl: 156 Sprache: chinesisch/deutsch Preis: 24,00 EUR ggf. zzgl. Versandkosten |
"Qianziwen – Der 1000-Zeichen-Klassiker" bei Reclam | |
Affenspass.de bedankt sich für das kostenlose Rezensionsexemplar bei Frau Andrea Friedel vom Reclam-Verlag. |