Rationale Fähigkeiten und Irrationalität im Kritik-Argument Kiesewetters
In der Debatte um die Normativität von Rationalität wird von Verteidigern der Normativität der Rationalität ein Argument angeführt, das auf der gängigen Kritik von Irrationalität (Kritik-Argument), irrationalem Verhalten und vermeintlich irrationalen Menschen beruht. Wenn Irrationalität kritisierbar ist, so muss Rationalität normativ sein.
Unter allen Fällen, in denen irrational als eine Zuschreibung genutzt wird, oder der nachfolgenden Definition nach genutzt werden könnte, gibt es allerdings einige Fälle, bei denen man das Wort nicht als Kritik verwenden will, oder ganz meidet, obgleich der Fall sich unter den Begriff der Irrationalität subsumieren ließe.
Das Problem bei diesen Fällen ist, dass Irrationalität möglicherweise nicht richtig definiert ist, oder nicht jede Form von Irrationalität als eine Kritik zu verstehen ist, wodurch Irrationalität auch keine Verletzung einer Norm darstellen kann. Damit wäre Irrationalität nicht normativ.
Benjamin Kiesewetter löst das Problem derart, dass nur solche Fälle von Irrationalität kritisierbar und als irrational zu bezeichnen seien, in denen die Irrationalität hätte vermieden werden können.
Die vorliegende Arbeit will nun klären, inwiefern das Hätte-Vermeiden-Können eine notwendige Bedingung für Irrationalität sein kann. Hierzu ist es zunächst notwendig, den Begriff der Rationalität zu definieren und dann das Kritik-Argument von Kiesewetter zu betrachten. Anschließend werden Fälle betrachtet, in welchen Kiesewetter jeweils Kritisierbarkeit oder Irrationalität bejaht bzw. verneint, um herauszustellen, wie stichhaltig es ist, anzunehmen, dass es nur berechtigte Kritik an Irrationalität gibt und das Hätte-Vermeiden-Können eine notwendige Bedingung für Irrationalität ist.
Inhalt
- Einleitung
- Das Hätte-Vermeiden-Können und die Irrationalität (s.o.)
- Rationalität
- Das Kritik-Argument
- Fazit
Rationalität
Rationalität wird im Oxford Dictionary of Philosophy als ein Prädikat definiert, welches man Verhalten, Meinungen, Argumenten und anderen Tätigkeiten des menschlichen Verstandes zuschreiben kann. Wird einer Entität dieses Prädikat zugesprochen, so wird oftmals davon ausgegangen, dass etwas Sinn macht, angemessen ist, oder in Übereinstimmung mit einem anerkannten Ziel steht. Umstritten ist, ob mit Rationalität eine Fähigkeit gemeint ist, mit der man menschliche von anderen Tieren unterscheidet.1
Benjamin Kiesewetter unterscheidet zwischen zwei Arten von Rationalität. Als ein Vermögen kommt Rationalität dem Menschen als ein rational being zu, im Gegensatz zu einer Pflanze. In diesem Sinne ist ein Mensch rational, weil sie einen Verstand oder ein rationales Vermögen (rational capacity) haben. Als Gegenteil zu dieser capacity sense-Definition von Rationalität sieht Kiesewetter nicht die Irrationalität, sondern die Arationalität oder Nichtrationalität.2
Nur wenn man im ersten Sinne ein rationales Wesen betrachtet, kann man ihm nach Kiesewetter auch eine Irrationalität zuschreiben. Dies ist möglich, weil er hier eine Definition von Rationalität hat, die zu einem Standard Bezug nimmt (standard-related sense). Verletzt das rationale Vermögen diesen Standard oder die Standards, so ist es nicht rational – irrational.3
Demnach ist Arationalität das Fehlen rationaler Fähigkeiten und Irrationalität eine Fehlfunktion dieser Fähigkeiten. Doch wie sieht Irrationalität aus? Kiesewetter beginnt sein Buch über die Normativität der Rationalität mit Beispielen von Irrationalität: Man kann inkonsistente Überzeugungen haben; oder Handlungen intendieren, von denen man glaubt, sie seien nicht kompatibel miteinander; oder Dinge glauben, von denen man weiß, dass man keine Belege für sie hat; oder aber man weiß, dass man etwas tun sollte, weil man ausreichend gute Gründe dafür hat, und hat es dennoch nicht vor zu tun.4
Kiesewetter stellt folgende im Diskurs bekannte Formen von Irrationalität vor:5
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Akratische Irrationalität: Wenn A glaubt, sie sollte ɸ-en, und sie hat nicht vor, zu ɸ-en, dann ist A irrational.
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Instrumentelle Irrationalität: Wenn A ɸ-en will, und A glaubt, dass es hierfür notwendig ist, zu ψ-en, und A hat nicht vor, zu ψ-en, dann ist A irrational.
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Doxastische akratische Irrationalität: Wenn A glaubt, hinreichende Belege dafür zu haben, dass p, und sie glaubt nicht, dass p, dann ist A irrational.
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Modus Ponens Irrationalität: Wenn A glaubt, dass p, und A glaubt, dass aus p logisch q folgt (p→ q), und A glaubt nicht, dass q, dann ist A irrational.
Als Standard oder Norm der Rationalität bezeichnet Kiesewetter schließlich das korrekte Reagieren auf Gründe.6 Die Rationalität erhält durch Gründe ihren Inhalt und ihre Normativität.
Das Kritik-Argument
Normativität durch Kritisierbarkeit
Für dieses Argument zieht Kiesewetter Parallelen von der Rationalität zur Moral. Es gibt moralische Standards an denen man Menschen und ihre Handlungen bewertet: Sie können nämlich moralisch und unmoralisch sein.7 (Wie auch bei der Rationalität gibt es hier eine dritte Kategorie, die der Amoralität, also jenseits von „gut und böse“, wenigstens abgekoppelt von einer moralischen Bewertung.)
Nur wenn man Gründe hat, sich an die moralischen Standards zu halten, müssen diese Standards normativ sein. Gibt es keine Gründe, sich an sie zu halten, so sind sie nicht normativ. Es gibt tagtäglich viele moralischen Diskussionen. Diese beinhalten Kritik an Menschen bzw. ihren Handlungen, also normative Bewertungen über sie. Diese Kritik setzt voraus, dass die Standards, an welchen Menschen oder ihr Verhalten gemessen werden, normativ sind. Menschen haben daher entscheidende Gründe, sich an diese Normen zu halten.8
Analog zu dieser Begründung der Normativität der Moral entwickelt Kiesewetter das Kritik-Argument für die Normativität der Rationalität. Bezeichnet man eine Person als irrational, so kritisiert man diese Person, meint Kiesewetter. Diese Kritik bedeutet, dass von einem Standard abgewichen wird, obwohl der Standard eine Autorität über die Person hat. Der Standard ist also normativ. Daher hat man einen hinreichen Grund, nicht von dem Standard abzuweichen, also rational zu sein:9
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Wenn Person A der rationalen Verpflichtung unterliegt, zu ɸ-en, wäre A kritisierbar, wenn sie nicht ɸ-en würde. (A → (B → C))
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Wenn A kritisierbar wäre, wenn sie nicht ɸ-en würde, hat sie einen entscheidenden Grund zu ɸ-en. ((B → C) → D)
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Also gilt: Wenn Person A der rationalen Verpflichtung unterliegt, zu ɸ-en, hat sie einen entscheidenden Grund zu ɸ-en. (A → D)
Soweit also Irrationalität kritisierbar ist, wird die Normativität von Rationalität vorausgesetzt. Wie Kiesewetter feststellt, kann die Normativität der Rationalität nur bestritten werden, wenn entweder Prämisse 1 oder 2 aufgegeben wird:10
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Entweder ist Irrationalität nicht kritisierbar,
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oder Kritik setzt nicht voraus, dass gegen einen guten Grund gehandelt wurde.
Nicht kritisierbare Irrationalität
Die erste Prämisse ist jene, in welcher das Hätte-Vermeiden-Können aufkommt. Kiesewetter unterstützt sie unter anderem mit dem Argument, dass Irrationalität als persönliche Kritik wahrgenommen wird.11 Es gibt allerdings Fälle, in denen von Irrationalität gesprochen wird oder werden kann, in denen diese aber möglicherweise nicht kritisiert wird oder nicht kritisierbar ist. Dazu zählen beispielsweise Krankheiten wie Demenz, Schizophrenie oder andere psychische Störungen. Wenn aufgrund einer solchen Krankheit ein rationales Wesen (capacity sense) irrationale Einstellungen entwickelt, beispielsweise glaubt, im 18. Jahrhundert und im 21. zugleich zu leben, dann wird dieser Mensch trotz dieser definitionsgemäßen Irrationalität (Inkonsistenz) nicht kritisiert.
Dem begegnet Kiesewetter, in dem er das Prädikat Irrationalität auf Menschen begrenzt, die solche Handlungen oder Einstellungen hätten vermeiden können, die als irrational bezeichnet würden. Er macht zur notwendigen Bedingung der Anwendbarkeit dieses Prädikats, dass Menschen diese Einstellungen oder Handlungen hätten vermeiden können. Die weitere Definition von Irrationalität, die im allgemeinen Sprachgebrauch üblich ist, und unter welche möglicherweise auch Menschen mit entsprechenden psychischen Störungen fallen, ist ihm für den philosophischen Diskurs zu weit.12
Also: Von Irrationalität will Kiesewetter nur sprechen, wenn diese hätte vermieden werden können. Zur einfachen Illustration eignet sich vielleicht folgendes Beispiel: Wenn ein Auto in einer Rechtskurve geradeaus fährt, so kann das eventuell daran liegen, dass a) mit dem vorhandenen Lenkrad kein Gebrauch gemacht wurde, oder b) kein Lenkrad vorhanden ist. Im ersten Fall (a) spricht Kiesewetter von Irrationalität und vom zweiten Fall (b) spricht Kiesewetter von Arationalität. Irrationalität ist laut ihm vermeidbar, da man da Lenkrad hätte nutzen können. Das Verhalten, das im zweiten Fall (b) zustande kommt, kann als irrational im Sinne der ersten vorgeschlagenen Definition genannt werden, scheint Kiesewetter aber nicht optimal.
¬ Hätte-Vermeiden-Können (HVK) → ¬ Irrationalität
Da das Hätte-Vermeiden-Können ihm eine notwendige Bedingung ist, muss in dem Fall von Irrationalität auch die Möglichkeit des Vermeiden-Könnens vorliegen.
Irrationalität → HVK
Krankheiten wie etwa die Demenz zählt Kiesewetter zu Einschränkungen von Fähigkeiten. Irrationalität ist für ihn nicht eine Fehlfunktion, sondern ein Fehler des Agenten, der Person.13
Dem Demenz-Beispiel, welches die erste Prämisse des Kritik-Arguments angreift, begegnet Kiesewetter also damit, dass er entsprechend kranken Menschen definitorisch die Möglichkeit von Irrationalität abspricht. Eine Fehlfunktion des Verstandes senkt die Kritisierbarkeit.14 Eine Pflanze kann, da es ihr an einem rationalen Vermögen mangelt, entsprechend auch nur arational sein.15
¬ (gesunder) Verstand → Arationalität
¬ (gesunder) Verstand → ¬ Irrationalität
Daraus folgt auch, wie Kiesewetter den Demenz-Einwand auf dem zweiten Weg beantwortet.
Irrationalität → Kritisierbarkeit16
Irrationalität ↔ Kritisierbarkeit17
¬ Verstand → ¬ Kritisierbarkeit
Eine Pflanze hat kein rationales Vermögen, würde sie ein – fälschlicherweise als irrational bezeichnetes – Verhalten zeigen, so wäre sie nicht zu kritisieren. Und in dem Maße, in dem ein Mensch ein Verlust an rationalem Vermögen erleidet, nimmt seine Kritisierbarkeit ab: „We are criticizable only if our rational capacity functions properly.“18 Es gibt also Einschränkungen geistiger Art, die die Möglichkeit von Irrationalität senken, da sie für eine Arationalität sorgen. Demenz oder Trunkenheit sorgen also nicht für eine Irrationalität, sondern entziehen Menschen aus der Sphäre jener Rationalität, die von Kiesewetter im standard-related-sense definiert wurde.19
Zusammengefasst setzt Kiesewetter für seine Kritik an Irrationalität ein Sollen voraus, für welches er plausiblerweise ein Können voraussetzt (Ought implies Can):
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Kritik → Sollen
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Sollen → Können
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Also: Kritik → Können
Irrationalität und Probleme mit Fähigkeiten
Hier wackelt die Definition von Irrationalität: Kiesewetter schreibt, dass man nur kritisierbar sein kann, wenn die rationalen Fähigkeiten bzw. das rationale Denkvermögen richtig funktioniert: „We are criticizable only if our rational capacity functions properly.“20 Zugleich zitiert er Donald Davidson mit „irrationality is a failure within the house of reason“.21 Demzufolge muss Irrationalität als ein Versagen oder Scheitern (failure) des rationalen Vermögens gesehen werden – also eine Fehlfunktion. Das wiederum würde bedeuten, dass eine Fehlfunktion identisch mit Irrationalität ist, man zugleich aber nur kritisierbar ist, wenn es keine Fehlfunktionen gibt. Das führt zu einem Widerspruch.
Irrationalität = Fehlfunktionen
Fehlfunktion → ¬ Kritisierbarkeit
Irrationalität → Kritisierbarkeit (1. Prämisse des Kritik-Arguments)
Davidsons Definition von Irrationalität ist kompatibel mit spontan eingängigen Fällen von Irrationalität: Fehleinschätzungen, Fehlschlüsse oder Verrechnungen könnte man plausibel als Fehlfunktionen oder Beeinträchtigungen des rationalen Denkvermögens sehen. Das hierbei die rationalen Fähigkeiten „properly“ funktionieren darf bezweifelt werden.
Nach Kiesewetter gibt es keine Fälle, in denen Irrationalität vorliegt, die nicht hätte zugleich vermieden werden können:
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Um von Irrationalität sprechen zu können, müssen die Standards von Rationalität müssen verletzt werden. Das ist für ihn der Fall, wenn man nicht angemessen auf Gründe reagiert. 22
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Das Wort irrational hat auch aber seine Berechtigung nicht allein daraus, dass Standards verletzt wurden. Die Art von Rationalität, die sich an Standards bemisst, die nur Lebewesen einhalten können, die ein rationales Vermögen haben, ist eine Sphäre, in welcher sich Menschen nicht mehr befinden, deren geistige Kapazitäten wenigstens temporär ausreichend stark nachgelassen haben. Je schlechter das rationale Vermögen funktioniert („ceases to function properly“), desto geringer ist die Kritisierbarkeit und die Möglichkeit, irrational zu sein.
Welche Fälle von Irrationalität kritisiert Kiesewetter, und haben alle diese Fälle gemeinsam, dass die Person diese Hätte-Vermeiden-Können?
Die ersten Fälle von Irrationalität, die Kiesewetter auf der ersten Seite seines Buches vorstellt, sind diese: Man kann inkonsistente Meinungen haben; oder Handlungen intendieren, von denen wir glauben, sie seien nicht kompatibel miteinander; oder Dinge glauben, von denen man weiß, dass man keine Belege für sie haben; oder aber man weiß, dass man etwas tun sollte, weil man ausreichend gute Gründe dafür hat, und es dennoch nicht vorhat zu tun.23
Zur besseren Einordnung ist es sinnvoll, die vier Kategorien zu bemühen, die Kiesewetter darauffolgend vorgestellt hatte:
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Akratische Irrationalität: Wenn A glaubt, sie sollte ɸ-en, und sie hat nicht vor, zu ɸ-en, dann ist A irrational.
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Instrumentelle Irrationalität: Wenn A ɸ-en will, und A glaubt, dass es hierfür notwendig ist, zu ψ-en, und A hat nicht vor, zu ψ-en, dann ist A irrational.
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Doxastische akratische Irrationalität: Wenn A glaubt, hinreichende Belege dafür zu haben, dass p, und sie glaubt nicht, dass p, dann ist A irrational.
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Modus Ponens Irrationalität: Wenn A glaubt, dass p, und A glaubt, dass aus p logisch q folgt (p→ q), und A glaubt nicht, dass q, dann ist A irrational.
Diese Fälle müssen vermeidbar gewesen sein, da hier sonst nicht von Irrationalität gesprochen werden könnte. Angenommen, es gibt für jede dieser vier Kategorien Fälle, in denen Irrationalität vermeidbar gewesen wäre, und das Gehirn also auch einwandfrei „funktioniert“ hat, und dennoch irrationale Einstellungen resultiert sind – was oben schon angezweifelt wurde – sind dann keine Fälle für diese vier Kategorien denkbar, in denen die Irrationalität unvermeidbar gewesen wäre? Bringen diese vier Kategorien also notwendig Irrationalität und Kritisierbarkeit mit sich? Ist keine mögliche Welt denkbar, in denen eine dieser „Irrationalitäten“ vorliegt, obwohl sie nicht hätte vermieden werden können?
Kiesewetter bringt als Beispiel einer Irrationalität, die für ihn natürlich auch berechtigt kritisierbar ist, Faulheit oder Willensschwäche.24 Dies fällt unter die akratische Irrationalität (Akrasia = Willensschwäche). Diese muss für ihn vermeidbar gewesen sein. Und sie muss notwendig vermeidbar sein, da sonst die erste Kategorie nicht automatisch zur Bewertung irrational führen kann. Sollte allerdings ein eingenommenes Medikament Lethargie befördern, so wäre diese Willensschwäche für Kiesewetter wohl eine Einschränkung ein Grund von zunehmender Arationalität zu sprechen, anstelle von einer Irrationalität. Es wäre, als entnehme man aus einem Auto das Lenkrad, sodass die Frage nach der Einhaltung der Standards von Rationalität ihre Berechtigung verliert. Andererseits wurde bereits auf die Probleme der Definition von Irrationalität hingewiesen, wodurch Irrationalität als eine Einschränkung des rationalen Vermögens gesehen werden kann. Es stellt sich die Frage, inwiefern bei der Willensschwäche wirklich das rationale Vermögen abhanden geht.
Des weiteren stellt sich bei der Willensschwäche die Frage, ob man so scharf von Agent und Fähigkeiten trennen kann. Kann man den Menschen losgelöst von seinen Fähigkeiten beschreiben und wählt er – was auch immer er an sich ist – frei nach Belieben, ob er seine Fähigkeiten nutzt oder nicht? Ist er also der Mensch hinter dem Steuer, mit welchem er denn steuern kann, wenn er will, oder ist er in diesem Beispiel vielmehr das Auto? Letzteres würde bedeuten, dass man ihn nicht von seinen Fähigkeiten getrennt betrachten kann.
Während die Hätte-Vermeiden-Können-Bedingung von Kiesewetter bedeutet, dass der Mensch das Lenkrad funktionstüchtig zur Verfügung haben musste, würde eine Mensch-Definition, die seine Fähigkeiten miteinbezieht, zur Folge haben, dass Irrationalität ein Phänomen ist, das nicht im Gebrauch oder Nicht-Gebrauch von Fähigkeiten liegt. Es liegt dann im Menschen, der diese Freiheit nicht mehr hat. Damit das Phänomen, das Irrationalität genannt wird, nicht mehr vermeidbar (und es wäre dann bei Kiesewetter ein Begriff, der auf nichts mehr angewandt werden könnte).
Es bliebe dennoch das Phänomen der Irrationalität, wenigstens in dem Sinne, dass im allgemeinen Sprachgebrauch beispielsweise Inkonsistenzen von Meinungen oder Überzeugungen eines einzelnen Menschen als irrational bezeichnet würden. Könnte man diese Inkonsistenzen oder anderen Irrationalitäten prinzipiell nicht vermeiden, so kann es nach Kiesewetter schließlich keine Irrationalität geben, natürlich auch keine kritisierbare Irrationalität. Es ist allerdings höchst unplausibel, dass Inkonsistenzen nicht mehr irrational sein können. Man könnte natürlich, um mit einem Euphemismus auch das (offenen) Kritisieren von anderen Menschen zu vermeiden, einfach begrifflich etwas ändern: Man könnte, wie es in der Logik üblich ist, von Schlüssigkeit oder Gültigkeit reden. Inkonsistenzen nennen wir nicht mehr irrational, sondern ungültig – und in der Folge als unschlüssig.
Relevant ist die Frage nach dem allgemeinen Sprachgebrauch besonders, weil Kiesewetter sich hier womöglich einen weiteren Widerspruch leistet: Das Kritik-Argument baut darauf, dass im allgemeinen Sprachgebrauch die Bezeichnung irrational als persönliche Kritik wahrgenommen und aufgenommen wird.25 Wäre diese Bezeichnung keine persönliche Kritik, so würde kein Standard verletzt werden und Rationalität wäre nicht normativ. Andererseits weist Kiesewetter den allgemeinen Sprachgebrauch allerdings wie bereits o.g. zurück, wenn er einschränkt, dass für den philosophischen Diskurs das Wort Irrationalität bloß auf Menschen angewendet werden sollte, die eine entsprechende Handlung oder Überzeugung hätten vermeiden können. Mit welchem Argument ist es richtig, dass eine gängige Bezeichnung irrational korrekterweise Kritik mit sich bringt, während eine übliche Bezeichnung von inkonsistenten Überzeugungen als irrational nicht richtig ist, wenn der Mensch vielleicht dement oder betrunken ist?
Wenn Menschen es kritikwürdig finden und das Wort Irrationalität gebrauchen, wenn man das rationale Vermögen nicht erhält oder ausübt, dann ist es nach Kiesewetter ein richtiger Sprachgebrauch.26 Wenn Menschen es als irrational bezeichnen, wenn man betrunken (also zeitweise ohne Lenkrad) inkonsistente Überzeugungen zugleich für wahr hält, dann ist es nach Kiesewetter ein – für den philosophischen Diskurs – schlechter Sprachgebrauch.
In allen vier Kategorien von Irrationalität, die Kiesewetter vorgestellt hat, sind merkwürdige Umstände denkbar, die zu diesem Verhalten oder zu diesen Einstellungen geführt haben könnten. Und auch den Beispielen von Irrationalität, die er zu Beginn seines Buches aufgeführt hat, können schlechte Umstände zugrunde liegen, die in Kiesewetters Sinne nicht zu vermeiden gewesen wären, weil temporär die Funktionalität des Gehirns gemindert sein könnte. Schlechte Umstände entziehen ein Verhalten oder Überzeugungen dem Prädikat, welches zu äußerlichen Beschreibungen passen könnte. Der allgemeine Sprachgebrauch – und auch das Oxford Dictionary of Philosophy – scheinen die Verwendung des Wortes Irrationalität für diese äußerliche Beschreibung zu unterstützen. Dass Kiesewetter diesen Gebrauch hier zurückweist und dennoch den Sprachgebrauch für sein Kritikargument bemüht, ist nicht ganz konsistent, wenigstens nicht ganz kohärent – also vielleicht irrational … unter (guten) Umständen.
Fazit
Ist das Hätte-Vermeiden-Können nun eine notwendige Bedingung für Irrationalität? Zum einen scheint Kiesewetters Definition von Irrationalität zu wackeln. Ist die Irrationalität ein Nicht-Gebrauch des rationalen Denkvermögens oder ein (wenigstens) nicht vollständig zugängliches rationales Denkvermögen? Eventuell ist dies eine Frage, die die Neurowissenschaften noch beantworten. Jedenfalls ist plausibel, dass es Fälle gibt, in denen von Irrationalität gesprochen wird, was mit Verweis auf die vier Kategorien von Kiesewetter durchaus einen Nutzen hat (wie sollte man es sonst nennen?), auch wenn das rationale Denkvermögen nicht vollständig nutzbar ist. Dass anfangs von Pflanzen gesprochen wurde, die bloß arational sein könnten, und nie irrational, mag richtig sein, trägt aber nicht zur Klärung bei, wenn über das (Nicht-) Hätte-Vermeiden-Können bei Menschen geredet wird: Pflanzen haben eben keine (für uns wahrnehmbaren) Handlungen oder Überzeugungen. Und so lässt Kiesewetter den sprichwörtlichen Elefanten im Raum stehen, nämlich den Elefanten und andere nichtmenschliche Tiere. Sie haben wie Menschen beobachtbare Handlungen und auch Überzeugungen lassen sich bei ihnen testen, beispielsweise Präferenzen. Nimmt man nun an, dass eine Handlung eines nichtmenschlichen Tieres in eine Kategorie der Irrationalität einzuordnen ist, so wird man wohl dennoch selten hören, dass es als irrational bezeichnet wird. Das Wort dumm würde eher verwendet werden. Dies kann allerdings nicht daran liegen, dass man dem Tier keinerlei rationales Denkvermögen zuspricht, sondern daran, dass das Wort rational, wie auch das Gegenwort mit Menschen assoziiert ist. In Bezug auf das Hätte-Vermeiden-Können muss dabei gar kein Unterschied zwischen Menschen und nichtmenschlichen Tieren bestehen.
Das Hätte-Vermeiden-Können kann keine notwendige Bedingung für die Irrationalität sein. Zum einen scheint es möglich, dass Fälle von Irrationalität, wie die Willensschwäche oder die Faulheit, kein Hätte-Vermeiden-Können vorliegt, Kiesewetter dennoch von Irrationalität spricht. Zum anderen ist unklar, inwiefern wirklich Bezug auf den allgemein Sprachgebrauch genommen werden kann oder soll. Bei Kiesewetter scheint das uneinheitlich zu geschehen. Mit Blick auf die genannten Assoziationen kann man nicht davon ausgehen, dass der Sprachgebrauch kohärent und in dem Sinne rational das Prädikat der Irrationalität zuweist. Ohne eine klare sprachliche Analyse oder Definition fällt das Kritik-Argument durch die erste Prämisse.
Mit Blick auf die von Kiesewetter benötigte Einheit von Kritik und Irrationalität wird das sprachliche Problem sogar noch größer: Wenn man davon überzeugt ist, dass Irrationalität negativ konnotiert ist, also mit Kritik verbunden ist, kann man das Wort dann unabhängig von ebendieser Überzeugung nutzen, also solche Zuschreibungen vornehmen? Da das wohl unmöglich ist, kann der übliche sprachliche Gebrauch nicht so einfach das Kriterium dafür sein, was sein soll.
Es bleibt noch die Frage, ob es ungerechtfertigte Kritik an Irrationalität gibt oder geben kann. Für Kiesewetter gibt es nur gerechtfertigte Kritik an Irrationalität. Irrationalität sei nämlich immer zu vermeiden, per Definition. Denn: Ist sie nicht zu vermeiden, ist es Arationalität. Da allerdings Fälle denkbar sind, in denen Kiesewetter (und nicht nur der allgemeine Sprachgebrauch) von Irrationalität spricht, aber die nicht zu vermeiden sind, muss es ungerechtfertigte Kritik an Irrationalität geben, oder die Definition von Kiesewetter umformuliert werden.
Ein – in diesem Fall wirklich nur metaphorischer – Elefant im Raum ist bei der Frage nach der gerechtfertigten Kritik an Irrationalität die Emotionalität. Diese wirft viele Fragen für eine weitere Beschäftigung mit der Irrationalität und der Kritik an ihr auf. Als ein Gegenwort zur Rationalität wird auch die Emotionalität gesehen. Ebenso werden kontextabhängig manchmal irrational und emotional synonym verwendet. Oft werden Verhaltensweisen als rein emotional motiviert betrachtet und in Bezug zu möglichen Kosten-Nutzen-Aufstellungen als irrational bewertet. Zum einen wirkt mit Kiesewetters Kritik-Argument die Emotionalität dann kritikwürdig. Und zum anderen gibt es in der Evolutionsbiologie schon seit fast einem halben Jahrhundert den Ansatz, eine Art (Zweck-Mittel-) Rationalität wenn nicht auf der individuellen, dann auf tieferen Ebenen zu erklären,27 wodurch auch Emotionalität eine Legitimation erhielte, oder wenigstens nicht zu kritisieren wäre.
1 Vgl. „Rationalität“, in: Simon Blackburn, The Oxford Dictionary of Philosophy, Oxford 2016, S. 402. 2 Vgl. Benjamin Kiesewetter, The Normativity of Rationality, Oxford 2017, S. 2. 3 Vgl. ebd., S. 2. 4 Vgl. ebd., S. 1. 5 Vgl. ebd., S. 14. 6 Vgl. ebd., S. 160. 7 Vgl. ebd., S. 24. 8 Vgl. ebd., S. 25. 9 Vgl. ebd., S. 25. 10 Vgl. ebd., S. 26. 11 Vgl. ebd., S. 39. 12 Kiesewetter in der Seminardiskussion am 6. Februar 2018. 13 Vgl. Benjamin Kiesewetter, The Normativity of Rationality, Oxford 2017, S. 36. 14 Vgl. ebd., S. 36. 15 Vgl. ebd., S. 2. 16 Vgl. ebd., S. 25. 17 Vgl. ebd., S. 36: „Insofar as irrationality is thought of as criticizable, as Raz agrees [...]“. Kiesewetter benutzt auf die Wörter Kritisierbarkeit und Irrationalität austauschbar. Siehe auch die Definition auf S. 2. 18 Ebd., S. 36. 19 Vgl. ebd., S. 2. 20 Ebd., S. 36. 21 Ebd., S. 2. 22 Vgl. ebd., S. 160. 23 Vgl. ebd., S. 1. 24 Vgl. ebd., S. 29. 25 Vgl. ebd., S. 25. 26 Vgl. ebd., S. 36. 27 Vgl. Richard Dawkins, The Selfish Gene, Oxford 1989, S. 183 ff. in Bezug auf das Gefangenendilemma, in welchem übrigens Rationalität stets zur individuellen Nutzenmaximierung führt, aber Irrationalität zu einer Nutzenmaximierung aller führen kann.
Literatur: Benjamin Kiesewetter, The Normativity of Rationality, Oxford 2017.