Modische Kleidung: Bedürfnis und Nutzen (Vershofen, Maslow)

Welchen Nutzen hat modische Kleidung? Zur Beantwortung dieser Frage werden im Folgenden zunächst Definitionen von Kleidung und Mode zitiert; darauf folgt der zweifache Blick auf den Nutzen: aus der Perspektive des Verbrauchsforschers Wilhelm Vershofen auf den Nutzen und des Psychologen Abraham Maslow auf die Bedürfnisse.

Definitionen

Kleidung

„Kleidung, die in verschiedensten Formen und aus unterschiedl. Material gefertigte Körperbedeckung [...] Zum Schutz gegen Wetter und Verletzungsgefahren, zur Anpassung des Äußeren an kulturelle, religiöse, standesgemäße und berufl. Gegebenheiten sowie als schmückende und rein mod. Veränderung.“[1]

Mode

„Mode [franz., von lat. modus ‚Art und Weise‘] die, der sich wandelnde Geschmack (in den verschiedensten Lebensbereichen); Zeitgeschmack (bes. im Hinblick auf die Art, sich zu kleiden). – Während die Kleider-M. in den mittelalterl. Gesellschaften bis in die beginnende Neuzeit auf die Zugehörigkeitzu einem bestimmten Stand verwies, hat die M. seit Ausbildung der Ind.gesellschaft ihre heutige Bedeutung als Mittel sozialen Wettbewerbs breiter Schichten und Schichtangehörigen untereinander gewonnen.“[2]

Bedürfnis

Abraham Maslow stellte 1943 eine Theorie menschlicher Motivation vor, in der er die Bedürfnisse von Menschen hierarchisch ordnete.

Die wichtigsten Bedürfnisse sind in seiner Bedürfnishierarchie unten angesiedelt. Es sind die physiologischen Bedürfnisse. Menschen haben Grundbedürfnisse wie Wasser, Nahrung, Schlaf und Sexualität. Auf der nächsthöheren Stufe folgen Sicherheitsbedürfnisse wie Wohnung, Arbeit und materielle Sicherheit. Die darauf folgenden Sozialen Bedürfnisse bestehen aus Familie, Freundschaft, Zugehörigkeitsgefühl und Liebe. Individualbedürfnisse wie Stärke, Erfolg, Unabhängigkeit, Freiheit, Prestige, Wertschätzung, Achtung und Ansehen sind auf der vierten Stufe. Die höchste Stufe der ursprünglichen Bedürfnisgliederung Maslows ist die Selbstverwirklichung. Dieses Bedürfnis kreist um die Entfaltung von Talenten, Potenzialen und der Kreativität.

Das Besondere an Maslows Bedürfnisgliederung, die häufig als Pyramide dargestellt wird, ist das Verhältnis von den Bedürfnissen zueinander. Die unteren Bedürfnisse müssen wenigstens zu einem Großteil erfüllt sein, damit Bedürfnisse der nächsten Stufe Menschen motivieren können.

„Human needs arrange themselves in hierarchies of pre-potency. That is to say, the appearance of one need usually rests on the prior satisfaction of another, more pre-potent need. Man is a perpetually wanting animal. Also no need or drive can be treated as if it were isolated or discrete; every drive is related to the state of satisfaction or dissatisfaction of other drives.“[3]

Die wichtigsten Bedürfnisse sind die physiologischen. Ein leerer Magen philosophiert nicht gern. Wer hungert, hat zunächst keine anderen Sorgen als den Hunger.

„Undoubtedly these physiological needs are the most pre-potent of all needs. What this means specifically is, that in the human being who is missing everything in life in an extreme fashion, it is most likely that the major motivation would be the physiological needs rather than any others. A person who is lacking food, safety, love, and esteem would most probably hunger for food more strongly than for anything else. If all the needs are unsatisfied, and the organism is then dominated by the physiological needs, all other needs may become simply non-existent or be pushed into the background.“[4]

Sobald aber eine Stufe hinreichend erfüllt ist, erwachen andere Bedürfnisse:[5]

„It is quite true that man lives by bread alone -- when there is no bread. But what happens to man’s desires when there is plenty of bread and when his belly is chronically filled? At once other (and ‚higher‘) needs emerge and these, rather than physiological hungers, dominate the organism. And when these in turn are satisfied, again new (and still ‚higher‘) needs emerge and so on. This is what we mean by saying that the basic human needs are organized into a hierarchy of relative prepotency.“[6]

Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=19910758

Nutzen

Eine Ware hat nicht nur den Nutzen, mit dem man sie primär assoziiert und wofür ihre Gattung erstmals entworfen wurde, sondern darüber hinaus andere Nutzen.

„Wenn ein neuzeitlicher Landwirt eine Maschine kauft, so sieht er selbstverständlich in erster Linie auf ihre Brauchbarkeit, d.h. ihre Geeignetheit für den ihr zugedachten Gebrauchszweck. […] Jedermann aber weiß, daß landwirtschaftliche Maschinen – solange sie neu sind – in den buntesten Farben glänzen. Hätten sie diesen Anstrich und diese Lackierung nicht, so würden sie wahrscheinlich trotz höchster Brauchbarkeit schwerer verkäuflich sein. Der Landwirt will also mit seiner neuen Maschine auffallen und sich auch an ihrem bunten Anblick erfreuen.“[7]

Wilhelm Vershofen entwickelte ein Nutzenschema, in dem er dem stofflich-technischen Grundnutzen einen seelisch-geistigen Zusatznutzen beistellte. Der Grundnutzen eines Trinkgefäßes ist das Aufbewahren einer Flüssigkeit mit einfacher Entnahmemöglichkeit. Das erfordert ein für Flüssigkeiten undurchlässiges Material (Stoff) und eine technische Form, die der Gravitation Einhalt gebietet, und außerdem ein gewünschtes Volumen fasst. Menschen geben dem Trinkgefäß einen weiteren Nutzen, den dieser Gegenstand ohne ein „seelig-geistiges“ Wesen nicht hätte. Zu diesen Zusatznutzen zählt Vershofen einen sozialen Geltungsnutzen, eine Schaffensfreude aus Leistung und einen Nutzen aus ästhetischer und ethischer Wertung (Harmonie und Ordnung).[8]

Mit dieser Gliederung des Nutzens einer Sache erklärt Vershofen, weshalb Verbraucher Gegenstände kaufen, die sie selbst nicht brauchen. Sie erfreuen sich über ein Schnäppchen (Schaffensfreude aus Leistung), ihnen gefällt Form oder Farbe (Ästhetik), oder sie erwarten Freude oder Neid der Mitmenschen (Geltungsnutzen).

Die große Schwäche des Verbrauchers liegt nach Vershofen darin, dass sie sich ihrer Kaufgründe nicht immer bewusst sind:

„Es ist ohne Zweifel richtig, daß der einzelne tätige und handelnde Mensch sich der Zusammengesetztheit seines Nutzenerlebnisses, sei es bei der Fertigung, sei es beim Verbrauch, nicht bewußt wird. Alles Geschehen im Leben ist ein ganzes und ungeteiltes. Aber wir vermögen die Besonderheiten eines jeden solchen Geschehens nur zu erklären, wenn wir das Miteinander in ein Neben- und Nacheinander aufgliedern. Darin liegt ja die ausgesprochene Eigenart unseres Erkennens und darin liegen auch seine Mängel und Grenzen.“[9]

Rational ist Vershofen zufolge beim Erwerb von Produkten offenbar nur die Deckung des stofflich-technischen Grundnutzens:

„Es erhebt sich nun die Frage, gibt es überhaupt Bedarfe, die der Verbraucher lediglich des Grundnutzens wegen deckt, den die entsprechenden Objekte zu bieten vermögen? Ohne die Schwierigkeiten zu verkennen, die beim Übergang von der Behandlung des Erlebens auf die des Gegenstands, der es verursacht, entstehen, läßt sich doch sagen, daß die aufgestellte Frage auf die andere hinausläuft, die ihrem Inhalt nach die gleiche Bedeutung hat: Handelt der Mensch bei der Umwandlung seines Geldeinkommens in Realeinkommen überhaupt jemals rein rational?“[10]

Die Untersuchung der Sortenvielfalt in Deutschland führt Vershofen zur Feststellung, dass der Verbraucher einen großen Wert auf Abwechslung legt, weil diese appetitanregend wirke und er sie für gesundheitsfördernd halte.[11] So kommt er zu einem Urteil, das Freunde von Astronautennahrung und Nahrungspulvershakes zu widerlegen versuchen:

„Wenn eine wissenschaftlich aufgebaute Ernährungslehre dazu führen könnte, die Standartnahrung des Menschen in günstigster Zusammensetzung herzustellen und sie in schmackhaften und besten Quanten, also durchaus nicht etwa in Pillenform, darzubieten, so würde der Mensch, der sich solcher Nahrung konsequent bediente, schließlich krank werden.“[12]

Der Mensch, so Vershofen, kommt mit dem Grundnutzen alleine nicht aus. Er empfindet den Drang der Abwechslung. Der Zusatznutzen wiegt für Vershofen stärker als der Grundnutzen und ist selbst in eine Hierarchie zu gliedern: Am stärksten wiegt der Nutzen von Harmonie und Ordnung, darnach folgen die Schaffensfreude und schließlich der Geltungsnutzen.[13]

 

Vershofen 1940:71

Maslows Bedürfnisse und Vershofens Nutzen

Maslows Bedürfnispyramide gliedert die Bedürfnisse der Menschen und Vershofen den Nutzen von Waren aus Verbrauchersicht. Diese beiden Darstellungen scheinen von unterschiedlichen Standpunkten zu beginnen, beschreiben aber letztlich dasselbe, wenngleich nicht allen Bedürfnissen Waren zuzuordnen sind. Die Nutzengliederung und Bedürfnispyramide haben mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede.

Maslow 1943 Vershofen 1940
  Ästhetik und Ethik
Selbstverwirklichungsbedürfnis Schaffensfreude aus Leistung
Individualbedürfnisse
Soziale Bedürfnisse Sozialer Geltungsnutzen
Sicherheitsbedürfnisse Stofflich-technischer Grundnutzen
Physiologische Bedürfnisse

Es gibt zwei zentrale Unterschiede zwischen beiden Gliederungen. Zum einen fehlen Ästhetik und Ethik in Maslows Arbeit von 1943, wobei in einer posthum veröffentlichten Erweiterung drei neue Bedürfnisebenen hinzukommen, in welche Ästhetik und Ethik mit mehr oder weniger Wohlwollen gelesen werden könnten: Ästhetik ist explizit eine der neuen Bedürfnisse, neben den kognitiven und der Transzendenz. Letzteres ist nebulös und kann Spiritualität, Altruismus und damit ebenso die Ethik umfassen.

Zum anderen meint Vershofen, anders als Maslow, dass die höheren Bedürfnisse, bzw. der höhere Nutzen immer bestimmend ist:

„Sobald neben dem Grundnutzen noch eine der Arten des Zusatznutzens auftritt, dann wiegt diese für die Entscheidung um so schwerer, je geringer ihr Grad von Allgemeinheit ist.“[14]

Zwar sieht Vershofen einen Grundnutzen als notwendig an, aber nicht zu welchem Grad der Nutzen vorhanden sein muss. Mit einem Beispiel über Damen, die modische Sommerkleidung kaufen, und dabei weniger Wert auf einen hochwertigen, lange haltbaren Stoff legen, solange Webart und Farbe gefallen, untermauert Vershofen seine Überzeugung. Und falls es im Interesse des „Volksganzen“ sei, auf einen speziellen Stoff zu verzichten, so würden Verbraucher diesen Ordnungsnutzen aus ethischer Wertung noch darüber stellen.

Vershofen vernachlässigt hier und vielmehr bei der Betrachtung der Brotvielfalt, dass ein zu gering befriedigtes physiologisches Bedürfnis höhere Bedürfnisse irrelevant erscheinen lässt. Wer friert, dem ist die Farbe der Kleidung egal. Wer hungert, dem ist die Brotform gleich.

„Freedom, love, community feeling, respect, philosophy, may all be waved aside as fripperies which are useless since they fail to fill the stomach. Such a man may fairly be said to live by bread alone.“[15]

Der Nutzen modischer Kleidung

Im Folgenden ist die Nutzengliederung von Vershofen also relevanter, weil sie Aspekte der Verbrauchersicht berücksichtigt, die Maslow unberücksichtigt ließ. Zugleich muss allerdings das Verhältnis der Ebenen zueinander aus Maslows Schema übernommen werden.

Welchen Nutzen erfüllt Kleidung der Brockhaus-Definition nach?

Kleidung (Brockhaus) Vershofen 1940
Schmückende und rein mod. Veränderung Ästhetik und Ethik
  Schaffensfreude aus Leistung
Anpassung des Äußeren an kulturelle, religiöse, standesgemäße und berufl. Gegebenheiten; mod. Veränderung Sozialer Geltungsnutzen
Schutz gegen Wetter und Verletzungsgefahren Stofflich-technischer Grundnutzen

In der Brockhaus-Definition fehlt ein der Schaffensfreude aus Leistung entsprechendes Kriterium. Da dies weniger an der Ware selbst hängt als alle andere Nutzen und eher den Akt der eigenen Produktion oder der Auswahl und des Kaufs berücksichtigt, fehlt dieser Punkt in einer Definition erwartungsgemäß. Ebenso wird der Aspekt der Ethik in der Definition nicht weiter eingeführt, da er in dieser Warengattung keine größere Bedeutung als bei anderen Gattungen hat. Relevant sind aus heutiger Sicht zu diesem Nutzen die Produktionsbedingungen und aus der Sicht der Kriegswirtschaft hatte Vershofen bereits seinen Beitrag.

Die Mode-Definition fügt sich in Vershofens Schema mit „wandelnde Geschmack“ in der Ästhetik und mit „Mittel sozialen Wettbewerbs breiter Schichten und Schichtangehörigen“ in den sozialen Geltungsnutzen ein.

Mit Maslows Verhältnis der Bedürfnisse zueinander ist verständlich, dass insbesondere die Angehörigkeit zu einer materiell definierten Schicht an Kleidung gut ablesbar ist. Das gilt für alle Güter, die ein physiologisches Bedürfnis bzw. ein in erster Linie stofflich-technischen Nutzen haben. Es gibt günstige Güter, die mit Blick darauf alleine produziert werden, und die entsprechend von weniger wohlhabenden Menschen erworben werden. Wer keine bzw. weniger materielle Sorgen hat, setzt sich ab und erwirbt Kleidung, die eher die ethischen und ästhetischen Bedürfnisse deckt, da die Deckung physiologischer Bedürfnisse kein Problem darstellt.

Die Mode wirkt in die Ästhetik und in das Soziale rein. Die Zugehörigkeit zu einer modeaffinen Gruppe muss im Wandel der Mode stets neugekauft werden, solange das Tragen entsprechend modischer Kleidung ein notwendiges Kriterium der Gruppenzugehörigkeit ist. Sofern die eigenen ästhetischen Vorstellungen ebenso modeabhängig sind, müssen diese Bedürfnisse auch immer wieder neu von gleichen Gütern befriedigt werden. Während der stofflich-technische Grundnutzen ungeachtet des Verschleißes (Entropie) unverändert bleibt, wird der eigene Nutzen der Kleidung von modeaffinen Menschen immer wieder neu extern determiniert – wenn sie nicht zu den wenigen „Trendsettern“ gehören. Der Nutzen modischer Kleidung ist damit recht fragwürdig und er steht etwaigen ethischen Bedürfnissen (Konsumkritik) entgegen.

Fazit

Der amerikanische Psychologe Abraham Maslow (1908–1970) und der deutsche Wirtschaftswissenschaftler Wilhelm Vershofen (1878–1960) stellen innerhalb weniger Jahre aus verschiedenen wissenschaftlichen Richtungen mit unterschiedlichen Intentionen Modelle auf, die mit verschiedenen Schwerpunkten letztlich das gleiche beschreiben. Maslow betrachtet universal die Bedürfnisse, die das menschliche Leben prägen, und Vershofen betrachtet, welchen Nutzen Waren haben. Da dieser nicht umhinkommt – nicht umhinkommen kann –, muss er auf den Menschen schauen, der gewissermaßen in die Dinge erst den Nutzen reinlegt. Das erfordert, dass er Maslows Perspektive einnimmt, wenngleich er auf seinem Feld der Verbrauchsforschung bleibt. Mit Maslows Deutung des Verhältnisses der Bedürfnisse zueinander und Vershofens Schema erhält man ein Modell, das den Nutzen modischer Kleidung dargestellt.

Die modische Dimension ist ein Einfalltor externer, sich ständig wandelnder Nutzenbewertung, die über die Ästhetik und über die eigene soziale Verortung wirkt. Modeunabhängig ist, wer sich in keinem sozialen Kontext gefangen sieht, der das Tragen modischer Kleidung erfordert, und sich seiner ästhetischen Bewertung bewusst ist und damit unabhängig macht.


Ein Versuch, Bekleidung systematisch zu ordnen, findet sich hier: https://perispasmos.de/perispasmos-c1-von-der-mode


[1]   Kleidung, in: Der Brockhaus in fünf Bänden, ISL-NAP, Leipzig 2004.
[2]   Mode, in: Der Brockhaus in fünf Bänden, ISL-NAP, Leipzig 2004.
[3]  A. H. Maslow, A Theory of Human Motivation, 1943. http://psychclassics.yorku.ca/Maslow/motivation.htm (2021-01-05)
[4]   Ebd.
[5]   Schopenhauer betrachtete Bedürfnisse genauso: „Jedes Menschenleben fließt nun fort zwischen Wollen und Erreichen. – Der Wunsch ist, seiner Natur nach, Schmerz: die Erreichung gebiert schnell Sättigung: das Ziel war nur scheinbar: der Besitz nimmt den Reiz weg: unter einer neuen Gestalt stellt sich der Wunsch, das Bedürfniß wieder ein“ (Deu-X:426f.)
[6]   Maslow 1943.
[7]  Wilhelm Vershofen, Handbuch der Verbrauchsforschung, Erster Band. Grundlegung, Berlin 1940, S. 69.
[8]   Vgl. ebd., 70ff.
[9]   Vgl. ebd., 70.
[10] Vgl. ebd.
[11] Vgl. ebd., 75.
[12] Vgl. ebd., 75f.
[13] Vgl. ebd., 77f.
[14] Ebd., 78.
[15] Maslow 1943.

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