Mesopotamische "Wissenschaft"
Meist sehen wir die Anfänge der modernen Wissenschaften in Griechenland. Bei Mesopotamien kommen Assoziationen, die wenig wissenschaftlich wirken, wie Tieropfer und Astrologie. Doch es gibt gute Gründe, auch von einer mesopotamischen Wissenschaft zu sprechen.
Die Wissenschaftlichkeit der "Moderne"
Noch im 19. Jahrhundert sprachen sich die etablierten schottischen Physiker Peter Tait und Balfour Stewart in ihrem Buch "The Unseen Universe" dafür aus, an die Unsterblichkeit der Seele und die Existenz einer empirisch nicht zugänglichen Welt (Jenseits) zu glauben – und zwar (pseudo-)wissenschaftlich fundiert. In dieser Zeit konnte man noch Physiker sein und zugleich Mitglied oder Präsident einer Gesellschaft zur Erforschung parapsychologischer Phänomene sein, wie es Balfour Stewart war. Auch wenn es die Society for Psychical Research noch heute gibt, so hat sich die Wissenschaft vom Spiritualismus nun deutlich abgegrenzt. Das fand allerdings nicht schon bei den Griechen an, sondern knapp 2.500 Jahre später.
Auch die Medizin ist vor kurzem noch längst nicht so fortschrittlich gewesen, dass sie sich leicht hätte abgrenzen können von Praktiken aus Babylon (vor 3.000 bzw. 4.000 Jahren). Regelmäßig wurden noch bis zur Modernisierung der Medizin (Empirie in der Medizin) Erkältungen mit Quecksilber oder einem Aderlass behandelt. Der Gottkomplex der Mediziner kostete viele Menschen das Leben.
Ebenfalls bedenkenswert bei der Abgrenzung der Moderne von Mesopotamien hinsichtlich der Wissenschaft ist ihr Zweck. Noch im 17. Jahrhundert brauchte die Wissenschaft stets eine externe Legitimation. Nach dem amerikanischen Soziologen Robert K. Merton hat im 17. Jahrhundert auch der Puritanismus dabei geholfen, der Wissenschaft einen Wert an sich zu geben. Damit wurde die Wissenschaft besonders in England zu mehr als einer bloßen Anwendungswissenschaft, also auch zu Grundlagenforschung, die nicht direkt zu Ergebnissen führt, aber langfristig zu Ergebnissen kommt und angewandte Wissenschaft ermöglicht.
Wissenschaft in Mesopotamien
Gegen eine Wissenschaftlichkeit in den Jahrtausenden vor unserer Zeitrechnung wird oft eingewendet, dass beispielsweise in der Medizin Krankheiten zwar gut dokumentiert wurden (mit Symptomen, Zeitpunkten, Verlauf, usw.), aber die Ursache meist in einem gestörten Verhältnis zu Göttern gesehen wurde. Auch die Astronomie der damaligen Zeit entspricht nicht unseren Vorstellungen: Sie war gemischt mit der Astrologie und damit sollte der Blick in den Himmel auch der Beratung vor politischen oder persönlichen Entscheidungen dienen. Über diese befremdlichen Beispiele hinaus wurde regelmäßig nach göttlichen Botschaften an Menschen in Eingeweiden von Tieren gesucht. Auch das wurde gut dokumentiert und mit "Nachschlagewerken" "wissenschaftlich" betrieben. Ob das nun gegen "Wissenschaft" spricht, ist natürlich eine Frage der Definition.
Die Altorientalistin Eva Cancik-Kirschbaum definiert "Wissenschaft" folgendermaßen: Es handelt sich um eine gesellschaftlich organisierte, systematische Suche und Übermittlung von zusammenhängendem Wissen.
Mit dieser Definition muss man auch der mesopotamischen Gesellschaft eine Wissenschaftlichkeit zugestehen. Sie erfanden eine Schrift - zunächst zur Verwaltung von Gütern. Um 3.200 v.u.Z. besaßen sie schließlich ein Schriftsystem, mit dem sie komplexe Realitäten beschreiben konnten, und hatten damit das zentrale Werkzeug für Wissenschaften. Sie konnten Erkenntnisse speichern und weitergeben - in Raum und Zeit. Die Gelehrten in Mesopotamien schrieben nicht nur Texte, sondern sie nutzten auch Skizzen, Diagramme, Tabellen und weitere Darstellungsformen.
Es wurde notwendig, Lesen und Schreiben zu lehren und auch dies institutionell zu organisieren. In der Ausbildung befindliche Schreiber hatten zudem die Aufgabe, Tontafeln zu kopieren, und damit zur Wissensspeicherung und -Verbreitung beizutragen. Dieses Wissen wurde hauptsächlich in Bibliotheken von Tempeln und Palästen gesammelt.
Der Großteil der Bevölkerung konnte weder lesen noch schreiben. Die wenigen Wissenschaftler stammten meist aus Gelehrtenfamilien, die über Generation zu dieser Elite gehörten. Sie hatten teils feste Netzwerke zum Austausch. Ihre wissenschaftliche Neugier richtete sich nicht bloß nach unmittelbar praktisch anwendbarem Wissen, sondern sie waren auch intrinsisch motiviert. Sie reisten daher viel und trafen auf andere Wissenschaftler und Gelehrten – wodurch auch das Wissen nach Griechenland kam, auf dem unsere heutige Wissenschaft eben auch aufbaut.
Fazit
Natürlich vermischten die Menschen in Mesopotamien (aus heutiger Sicht) Astrologie und Astronomie, Medizin und Religion. Und auch opferten und öffneten sie Tiere, um ihn ihnen die Zukunft abzulesen. Doch spricht die Systematik, mit der sie Wissen verwalteten und suchten, und ihre Institutionen dafür, dass sie Wissenschaft betrieben. Wenn dieser frühen Hochkultur die Wissenschaftlichkeit aufgrund ihrer Inhalte abgesprochen wird, dann kann die Wissenschaft tatsächlich erst vor 70-150 Jahren begonnen haben, da ihre Praktiken nicht wesentlich befremdlicher sind als jene im 19. Jahrhundert.
Literatur: Eva Cancik-Kirschbaum, Wege in die Wissensgesellschaft - der alte Orient.