Lügt der Rechtsprofessor Volker Boehme-Neßler?

Im Artikel der BILD-Zeitung "Kommt jetzt das Lügen-Verbot?" geht es um den geplanten neuen "Umgang mit Desinformation" im Koalitionsvertrag. In einem Absatz bezeichnet der Rechtsprofessor Volker Boehme-Neßler von der Uni Oldenburg den Satz "Die Erde ist eine Scheibe" als eine "klassische Lüge". Eine falsche Tatsachenbehauptung sei nämlich eine Lüge.

Einen Absatz später präzisiert der Artikel diese Definition der Lüge. Eine Lüge muss bewusst verbreitet werden. Das impliziert, dass dem Sprecher klar ist, dass seine Aussage falsch ist. Wäre dem nicht so, würden vermutlich alle Menschen tagtäglich lügen. Lügen wäre dann bewusst und unbewusst möglich. Und in Bezug auf die flache Erde wären Menschen vieler früherer Kulturen Lügner gewesen. Ebenso jeder Mensch, der sich mal irrt und demzufolge etwas Falsches ausspricht.

Lügen zu definieren ist komplexer

Die Definition der Lüge im Artikel ähnelt der klassischen Definition der Lüge:

To lie = to make a believed-false statement to another person with the intention that the other person believe that statement to be true.

Diese Definition hat also drei notwendige Bedingungen: falsche Aussage + Absicht + Publikum

Diese ist etwas problematisch, wenngleich besser als die kurze Darstellung von Volker Boehme-Neßler. 

Folgende Kritikpunkte an der traditionellen Definition der Lüge gibt es:

  1. Müssen Lügen gesprochene Aussagen sein? Kann man nicht auch ohne Aussage lügen? Was ist mit Verhalten, Verschweigen und Gestiken?
  2. Muss eine Lüge eine objektiv falsche Aussage sein? Was ist mit selektive Wahrheiten und implizierten Bedeutungen?
  3. Muss der Lügner glauben, dass seine Aussage falsch ist?
  4. Was ist, wenn die Aussage des Lügners wahr ist, aber von ihm für falsch gehalten wurde? Reicht ein Täuschungsversuch ohne tatsächliche Falschheit?
  5. Was ist mit Menschen, die vom Lügner nicht bewusst adressiert wurden, aber dann die Lüge glauben?
  6. Muss ein Lügner auch die Absicht haben, dass sein Gegenüber glaubt, dass der Lügner von dem Wahrheitsgehalt seiner Aussage (Lüge) überzeugt ist?
  7. Zuallerletzt gibt es eine ganze Reihe von Fällen, in denen man sicherlich nicht von Lügen sprechen möchte: Witze, Schauspielerei und Ironie können die notwendigen Bedingungen der o.g. Definition von Lüge erfüllen.

Fazit

Lügt der Rechtsprofessor Volker Boehme-Neßler in diesem BILD-Artikel mit seiner Definition der Lüge? Sicherlich nicht. Selbst wenn seine im Artikel dargestellte Aussage zur Lüge falsch ist, liegt nicht notwendigerweise eine Lüge vor, da er unklar ist, ob er sein Gegenüber bewusst täuschen wollte. Der Professor könnte sich geirrt haben. Zudem wurde seine Aussage im Artikel vermutlich gekürzt dargestellt. Und überhaupt müsste man erst einmal eine gute Definition einer Lüge haben.

Schlimmer noch als eine schlechte Definition einer Lüge wäre natürlich ein Gesetz, das auf Basis einer schwammigen Definition viele Menschen zu Straftätern macht ...

Quellen

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