Kalender: mesopotamisch und gregorianisch im Vergleich
Der schnelle Blick auf ein Datum oder einen Kalender ordnet uns mühelos unsere Umwelt und das Weltgeschehen ein. Darüber hinaus liefert dieser Blick berechtigte Erwartungen an mögliche soziale, kulturelle, religiöse, wirtschaftliche und politische Ereignisse. Obwohl die Relevanz der Natur und -Ereignisse im Alltag oft nicht mehr sehr präsent sind, hängt doch bis auf Weiteres unsere gesamte Existenz von ihr ab – und auch sie findet sich in berechtigten Erwartungen und Voraussagen in unserem Kalender wieder: Ob Ostern oder Oktober, ob Winter oder Wahltag: Alles ist in unserem gregorianischen Kalendersystem geordnet.
In dieses System flossen Jahrtausende Jahre an Erfahrungen, die das zeitliche Ordnen von Ereignissen im Alltag von Himmelskörpern unabhängig machten. Die Frage nach der Jahreszeit wird im Alltag nicht mehr mit dem mühseligen Blick in die Natur, sondern mit dem kurzen Blick auf eine Abstraktion beantwortet. Diese, heutige gebräuchliche, Abstraktion ist ein Erbe Mesopotamiens. Wann und auf welchen Wegen astronomisches Wissen von Mesopotamien aus nach Persien, Indien, Griechenland, Rom und Ägypten verbreitet wurde, ist unklar,1 doch finden sich Spuren und Indizien unter anderem in Äthiopien, in der jüdischen Kultur und in der Bibel.2 Darüber hinaus sind die Ähnlichkeiten zwischen dem heutigen Kalender und mesopotamischen Kalendern trotz der zeitlichen Distanz von 2.000 bis 4.000 Jahren auch bei Problemstellungen groß, die gänzlich verschiedene Lösungsmöglichkeiten zuließen.
Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, erstens zu zeigen, welche Herausforderungen bei der Konstruktion von Kalendersystemen in Mesopotamien bewältigt wurden, und zweitens darzustellen, wie sich die damaligen Lösungen zu den heutigen verhalten.
Inhalt
Funktionen von Kalendern
Wozu benötigt man Kalender und wofür wurden sie vor 5.000 Jahren genutzt? Der erste Grund ist die Landwirtschaft. Da Hochwasser saisonal auftreten und ideale Saat- und Erntezeiten ebenso synchron zum Solarjahr wiederkehren, sich also jähren, ist Kalenderwissen nicht nur praktisch, sondern ein überlebenswichtiges Kulturgut.
Die zweite Bedeutung von Kalendern in Mesopotamien hängt mit dem sehr anthropozentrischen Weltbild dieser Kultur zusammen. Es herrschte die Überzeugung, dass mit der Schöpfung durch die Götter alles regelhaft eingerichtet wurde.3 Wann immer etwas aus der Reihe lief, wurde dies als ein Zeichen der Götter an die Menschen gedeutet. Entweder wollten die Götter auf Gefahren des menschlichen Handelns oder der Wünsche hinweisen oder sie wiesen auf günstige Gelegenheiten hin.4 Zu den möglichen Unregelmäßigkeiten gehörten Zeichen in der Leber von Schafen, Unwetter und auch vermeintliche Unregelmäßigkeiten am Himmel. Letztere konnten insbesondere von der Sonne, also dem Gott Šamaš, und dem Mond(-Gott), seinem Vater Sin, ausgelöst werden. Um von Unregelmäßigkeiten erfahren zu können, muss man allerdings zunächst Regelmäßigkeiten formulieren können. Vereinfacht kann gesagt werden, dass seltene Phänomene als göttliche Omen gesehen wurden. Was selten und nicht regelhaft geschieht, ist in der Regel ein schlechtes Omen. Dazu gehörten beispielsweise Sonnen- oder Mondfinsternisse, oder der Blutmond, welcher noch in Griechenland und im spätantiken Konstantinopel als ein Omen gesehen wurde.5
Umstritten ist, ob der nachfolgend noch behandelte ideale Kalender mit 12 30-Tage-Monaten als eine göttliche Einrichtung gesehen wurde, von der die Götter als Zeichen an Menschen praktisch regelmäßig abwichen, wenn eine Lunation nur 29 Tage zu dauern schien.6
Zeiteinheiten
Intervalle
Kalender teilen das Phänomen der Zeit in Intervalle ein. Diese bieten einen Rahmen, in welchen man vergangene und künftige Ereignisse einordnen kann. Üblich sind die Intervalle Tag, Monat und Jahr.7
Jedes dieser drei genannten Intervalle war im Verlauf der dokumentierten Geschichte Mesopotamiens von zentraler Bedeutung. Trotz oder gerade aufgrund dieser Bedeutung ist die Frage nach der Definition dieser Intervalle zu stellen: Wie lange ist ein solches Intervall und wann beginnt es? Dies wird im Folgenden dargestellt.
Darüber hinaus kann man allerdings ebenso nach der Berechtigung anderer möglicher Intervalle fragen. Wir kennen heute im gregorianischen Kalender neben dem Tag, dem Monat und dem Jahr noch die Woche. Ebenso könnte man von Quartalen sprechen, die nämlich auch als Intervalle der Zeit eine gewisse Relevanz haben oder hatten (man denke nur an Praxisgebühren oder Arztüberweisungen). Grundsätzlich waren in Mesopotamien nur Tage, Monate und Jahre relevant; es gab zwar mehrtägige Perioden, aber nicht wie „unsere“ Woche als ein vom Monat unabhängiges Intervall.8
Warum gerade Tage, Monate und Jahre die maßgeblichen zeitlichen Intervalle für Kultur, Wirtschaft und Politik – und nicht etwa die Woche – wurden, wird ersichtlich, wenn nachfolgend der astronomische Bezug und der Nutzen jeder dieser drei Einheiten dargelegt wird.
Tage
Der Wechsel von nächtlicher Dunkelheit und täglichem Sonnenlicht infolge der Drehung der Erde um ihre eigene Achse ist trivialerweise der astronomische Anker dieser Zeiteinheit. Der Nutzen im Wahrnehmen dieser Zeiteinheit liegt schon im biologischen Schlafbedürfnis bekannter (nicht-/)menschlicher Tieren. Auch die Länge dieser Einheit wird kaum hinterfragt, sodass der Tag nicht selten als basale Recheneinheit für andere Zeitintervalle genutzt wird, beispielsweise zum Ausdrücken der Länge von Monaten.
Der Beginn des Tages ist dagegen eine eher willkürliche Festlegung. Während heute die ISO 8601 die Mitternacht als Ende (24:00 Uhr) und Beginn eines Tages festlegt, begann der Tag im Zweistromland mit dem Sonnenuntergang.9 Dies scheint uns heute wenigstens aufgrund der Assoziation von Tag zu Tageslicht merkwürdig. Diese hat auch damit zu tun, dass Tage als länger wahrgenommen werden, wenn die Sonne länger scheint – also auf der Nordhalbkugel in den Monaten März bis September.
Dafür, dass die Setzung Sonnenuntergang = Tagesbeginn nicht sonderbar oder ungewöhnlich ist, spricht neben dem Blick in vermeintlich ferne Religionen wie dem Islam auch der Blick in das Alte Testament:
„Und Gott sprach: Es werde Licht! Und es ward Licht. Und Gott sah, dass das Licht gut war. Da schied Gott das Licht von der Finsternis und nannte das Licht Tag und die Finsternis Nacht. Da ward aus Abend und Morgen der erste Tag.“10
Der Tag konstituierte sich zunächst aus einem Abend und darauf erst dem Tageslicht. Als Begründung für die mesopotamische Sicht, welche, wie bereits erwähnt, als Ursprung westlicher Kalender betrachtet werden kann, gilt, dass das Licht der Ursprung von allem ist, und vor dem Ursprung das Nichts ist.11 Auch dies steht in völliger – wenngleich auch nicht benötigter – Harmonie zur Bibel.
Die Namensgebung für die Tage gibt schon Auskunft über einen möglichen Ursprung der (eher) modernen Einheit der Woche: Die Tage wurden schlicht durchgezählt. Begonnen wurde mit jenem Tag (Sonnenuntergang!), an welchem die Mondsichel das erste Mal gesichtet wurde, bis hin zum 29. Tag, dem Tag des Verschwindens des Mondes. Besondere Namen hatten lediglich die Tage 1 („Mondsichel“), 7 („Siebentag“), 15 („Vollmond“) und 29 („Tag des Verschwindens“).12 Die Woche könnte also eine Abstraktion dieses Rhythmus sein. Die schon hier offensichtliche Unstimmigkeit zwischen einem festen X-Tage-Intervall mit einem Himmelskörper wird nun bei dem Monatsintervall thematisiert.
Monate
Schon etymologisch verweist das deutsche Wort Monat auf eine Verwandtschaft zum Himmelskörper Mond.13 Der Mond ist der astronomische Anker der Einheit Monat. Der Mond eignet sich aus zwei Gründen gut als Zeitgeber:
Erstens: Eine Lunation, also seine Umkreisung der Erde, beansprucht eine für Messungen praktische Zeitdauer. Würde eine Umkreisung beispielsweise bloß zwei oder drei Tage beanspruchen, so wäre es wohl noch praktischer, diese Dauer in Tagen auszudrücken. Und eine wesentlich größere Dauer wäre unpraktisch, da hierfür jahreszeitliche Wechsel14 oder das Jahr genutzt werden könnten.
Der zweite und bedeutendere Grund für den Gebrauch des Mondes als wichtigen Zeitgeber ist die Zugänglichkeit für Laien. Zwar wurde die Astronomie des Zweistromlands auf ein beachtliches Niveau entwickelt, aber am Anfang dieser Entwicklungen waren gewissermaßen alle Laien. Wenn nicht gerade das Wetter den Himmel verdeckte, konnte man den Mond und das Stadium seiner Umkreisung in der Nacht ablesen. Wie zugänglich der Mond als Zeitgeber ist, lässt sich gut anhand einer einfachen Berechnung der Lunation darstellen:
Wenn man viele Monde (Mond-Monate) lang die Tage zwischen zwei Neumonden zählt, also jeweils dem ersten Sichtbarwerden der Mondsichel nach einer Sonnen-Mond-Konjunktion, dann erhält man eine statistische Verteilung von Häufigkeiten. In der Rückschau wurde dies für über 2.200 Jahre babylonischer Daten ausgewertet: Auf 29 Tage kamen 46,9%, auf 30 Tage kamen 53,1% und auf 31 Tagen fielen weniger als 0,1%.15 Damit muss die durchschnittliche Lunation 29 Tage betragen, plus 53,1% eines weiteren Tages, also 29,531 Tage. Das kommt der heute berechenbaren Dauer von 29,530589 Tagen sehr nahe.16 Diese Annäherung ist das simple Ergebnis von Zählungen, Dokumentationen und einer einfachen Auswertung.
Im Vergleich zum Mond ist es bei der Sonne deutlich schwieriger, die Sonnenphasen festzustellen. Daher überrascht es nicht, dass der mesopotamische Kalender im Wesentlichen auf den Mondphasen aufbaute.
Der Monat gliedert sich nun entlang der Mondphasen.17 Mit Beginn eines neuen Tages, also mit Sonnenuntergang, konnte am Nachthimmel (bei optimalem Wetter) „abgelesen“ werden, in welcher Phase des Mondes/Monats man sich befand. Der Monat beginnt mit dem ersten Sichtbarwerden des Neumondes und hört mit dem nächsten Neumond auf. Die Länge eines Monats hängt davon ab, wann genau der Neumond sichtbar wird.
Beispielsweise wird man am 15. April 2018 gegen 20:19 Uhr einen Sonnenuntergang erleben und in etwa der ersten darauffolgenden Stunde18 – in der Abenddämmerung – nach einem Neumond Ausschau halten. Nach einem Lunar-Kalender ist dieser 15. April mit Zählung ab dem Neumond vom 17. März 2018 der Tag 29. Da der Neumond erst gegen 3:57 Uhr am 16. April sichtbar sein wird, also im späteren Verlaufe des 30. Tages, würde dieser mesopotamische Monat 30 Tage haben (siehe Abbildung 1). In der darauffolgenden Nacht wäre der Neumond zu Tagesbeginn nämlich sichtbar – erstmals an einem Tag noch in der Abenddämmerung.
Abbildung 1: Monatslängenentscheidung (eigene Darstellung)
Jahre
Der astronomische Bezugspunkt der Einheit Jahr ist der Lauf der Erde um die Sonne. In Tagen ausgedrückt sind es 365,2492 Tage.19 Diesen Zeitgeber zu betrachten ist sinnvoll, da sich entsprechend der Sonnenphase statistische Vorhersagen in Bezug auf das Wetter und infolgedessen auf die Flussstände und die Lebenszyklen von (Nutz-)Pflanzen treffen lassen. Für eine sesshafte Gesellschaft ist es absolut wichtig, zuverlässig Landwirtschaft zu betreiben, sodass auch Kenntnisse über den Sonnenstand am Himmel wichtig waren.
Im Gegensatz zum Mond ist es bei der Sonne schwieriger, einen Anfangspunkt für einen Zyklus zu definieren. Der Sonnenstand ist zwar von der Umlaufbahn abhängig, aber es gibt keine jährliche Konjunktion, nach der man einen Beginn markieren könnte. Im gregorianischen Kalender ist der Jahresbeginn willkürlich festgelegt, doch in den mesopotamischen Kalendern wurde versucht, den Jahresanfang astronomisch an die Sonne zu koppeln. In Babylonien wurde sich hierfür am Frühlingsäquinoktium orientiert, also der Tagnachtgleiche im Frühling (die nächste ist am 20. März); in Assyrien war dies das Herbstäquinoktium.20 Mit Ende der Ur-III-Zeit vor ca. 4.000 Jahren traten zunehmend lokale Kalender in den Hintergrund und es setzte sich das Kalendersystem Nippurs mit dem Frühlingsäquinoktium durch.21 In allen Fällen war jedoch ein astronomisches Ereignis mit Bezug auf die Sonne nie mehr als ein grober Bezugspunkt. In Zentrum aller kalendarischen Bestimmungen stand der Mond, dessen Laufbahn keine regelmäßigen Ereignisse bot, die synchron zu diesen solaren Ereignissen abliefen, sodass man in der Regel deutlich davon abwich.
Die Vereinbarkeit von Sonne und Mond als Zeitgeber
Ganzzahlig sind weder die Umlaufdauer des Mondes um die Erde, noch die Erdumlaufdauer um die Sonne. Zudem ist die Dauer des Sonnenjahrs kein Vielfaches einer Lunation. Die mesopotamische Kultur und das politische System standen daher vor der Herausforderung, die drei Zeiteinheiten mit ihren jeweiligen Nutzen und Vorzügen in ein harmonisches System zu integrieren.
Wie im Zweistromland der Mond-Monat mit dem Tag in eine ausreichend ideale Abstimmung gebracht wurde, ist schon dargelegt worden (die Entscheidung des in ganzzahligen Tagen ausgedrückte Monatsende). Für den Fall, dass eine Kultur einen reinen Lunarkalender nutzt, ist weiter nichts zu beachten. Wenn der Mondkalender allerdings in Harmonie mit dem Sonnenjahr gebracht werden soll, entstehen die Probleme, da die Monate sonst keine festen Jahreszeiten haben (der Ramadan wandert eben so durch das Solarjahr).
Nimmt man die Anzahl an Lunationen, die der Dauer eines Solarjahres am nächsten kommt, so gelangt man zu 12*29,53 Tagen, was in etwa 354 Tage ergibt. Das Solarjahr hat 365,2492 Tage, womit die Differenz etwa 11 Tage beträgt. Der bürgerliche Kalender der neu-assyrischen Zeit wurde beispielsweise mittels Schaltmonaten alle zwei oder drei Jahre auf königliche Anordnung korrigiert.22 Idealerweise wäre alle 2,7 Jahre ein Schaltmonat als 13. Monat eines Lunarjahres eingefügt worden.23 Dem Ideal standen allerdings immer wieder politische, wirtschaftliche und kultische Interessen im Weg: Zahlungen wie Tribute oder Tilgungen und wichtige Feste von großer Bedeutung für Götter, König und Volk waren etwa für bestimmte Monate terminiert. Wollte der König noch Zahlungen erhalten oder das Neujahrsfest für sein Ansehen bei den Göttern oder dem Volk baldig ausrichten, so war ihm nicht viel daran gelegen, einen Schaltmonat noch davor abwarten zu müssen.24
Mit zunehmender Reichsgröße wurde nicht nur der bereits erwähnte Jahresbeginn im Norden und Süden Mesopotamiens einheitlich, sondern auch die Einsetzung von Schaltmonaten. Dies ist umso wichtiger, je größer ein geografisches Herrschaftsgebiet ist, da die Verkündigung der königlichen Anordnung eines Schaltmonats umso länger braucht, je weiter die Kunde verbreitet werden musste. Obwohl der König weiterhin die Befugnis hatte, selbst zu bestimmten, wann „geschaltet“ wurde, sind für die neu-babylonische Periode größere Epochen von regelmäßigen Schaltungen im 19-Jahresrhythmus zu beobachten.25 Das kann damit erklärt werden, dass feste Regeln Verlässlichkeit brachte, von der er direkt und indirekt über die Wirtschaft, der es auch Nutzen brachte, profitierte.26
Der gregorianische Kalender hat den Mond aufgegeben und ist dem idealen Kalender ähnlicher, welcher in Mesopotamien für die Berechnung von Zinsen oder für die Verwaltung Verwendung fand,27 oder dem antiken ägyptischen Kalender, welcher auch eine Abstraktion eines Lunarkalenders war.28 Der ideale Kalender Mesopotamiens bestand aus 12 Monaten zu je 30 Tagen und war damit nur knapp 5 Tage kürzer als das Solarjahr. Da er einen Schaltmonat bekam, wenn der bürgerliche Kalender einen bekam, und somit der Willkür des Königs unterworfen war, profitierte die Verwaltung auch durch die Regelmäßigkeit im 19-Jahresrhythmus.
Dass der ideale Kalender Mesopotamiens nicht bloß eine antike Abstraktion des Mondkalenders ist, sondern noch heute relevant ist, zeigt sich auch daran, dass im Finanzwesen der Monat (Bankmonat) noch heute zur Vereinfachung der Berechnung von Zinsen lediglich 30 Tage hat und ein Bankjahr demnach bloß 360 Tage. So kennt auch das Bürgerliche Gesetzbuch 30-Tage-Monate, bei 365 Tagen im Jahr (wie der antike ägyptische Kalender!): „[…] so wird der Monat zu 30, das Jahr zu 365 Tagen gerechnet.“ (§191 BGB)29
Ein regelmäßiges Kalendersystem ohne Schaltjahre kann nicht ein ganzzahliges Jahr oder einen ganzzahligen Monat synchron zu einem oder gar beiden für die Erde bedeutendsten Himmelskörpern halten. Es braucht Schalttage oder -Monate, wenn nicht die Bindung zu einem Himmelskörper aufgegeben wird. Die gregorianische Abstraktion hat schon mit dem julianischen Vorgänger den Mond aufgegeben und nur Monatsabstraktionen beibehalten, für deren administrative Zweckmäßigkeit sie schon in Mesopotamien geschaffen wurden.
Fazit
Die Herausforderungen an die mesopotamischen Kalender bestehen noch heute als Herausforderungen an unseren gregorianischen Kalender. Da dieser allerdings eine größere Abstraktion von den Ursprüngen des Kalenderwesens ist, und weder Mondphasen noch Sonnenphasen heute noch unter besonderer Beobachtung im alltäglichen Leben stehen, wird zum einen leicht vergessen, dass dies der Ursprung ist, und zum anderen, dass diese Abstraktion „nicht vom Himmel gefallen“ ist.
Auch wenn die vorliegende Arbeit nicht zum Anspruch hatte, eine gesamte Entwicklungsgeschichte eines oder der mesopotamischen Kalender bis hin zum gregorianischen darzustellen oder zu konstruieren, so sind doch klare Parallelen zwischen ihnen deutlich geworden.
Da das Wissen über mesopotamische Kalender sich hauptsächlich aus Datierungen von Urkunden, Briefen und anderen Dokumenten speist, und kein Kalender als solches gefunden wurde, liegt vieles im Unklaren, besonders über Perioden, aus welchen eher weniger Dokumente gefunden wurden. Jede weitere Tontafel kann bisherige Annahmen stützen oder aber Fragen aufwerfen. Idealerweise beantworten weitere Funde beispielsweise, welche Rolle der ideale Kalender in Mesopotamien gespielt hatte: Hatte er bloß Funktionen wie heutige Bankmonate oder war er das formulierte Ideal, von welchem Götter abwichen, um mit Menschen zu kommunizieren?
Die Verwandtschaft des gregorianischen Kalenders mit den mesopotamischen Vorgängern scheint hingegen von weiteren Funden nicht mehr bestreitbar zu sein.
1 Vgl. Jonathan Ben-Dov, Head of All Years. Astronomy and Calendars at Qumran in their Ancient Context, Leiden 2008, S. 13. 2 Vgl. ebd., S. 271. 3 Vgl. Eva Cancik-Kirschbaum, Kalender im Alten Orient, in: Klaus Peter Dencker (Hg.), Die Politik der Maschine, Hamburg 2002, S. 106. 4 Vgl. Stefan M. Maul, Die Wissenschaft von der Zukunft. Überlegungen zur Bedeutung der Divination im Alten Orient, in: Eva Cancik-Kirschbaum/Margareta van Ess/Joachim Marzahn(Hg.), Babylon. Wissenskultur in Orient und Okzident/Science Culture Between Orient and Occident, Berlin 2011, S. 145. 5 Vgl. Zoe Misiewicz, Mesopotamian Lunar Omens in Justinian‘s Constantinople, in: John M. Steele, The Circulation of astronomocal knowledge in the ancient world, Leiden 2016, S. 371 ff. 6 Vgl. John M. Steele, Making Sense of Time: Observational and Theoretical Calendars, in: Karen Radner/Eleanor Robson, The Oxford Handbook of Cuneiform Culture, Oxford 2011, S. 474. 7 Vgl. John M. Steele, Making Sense, S. 470. 8 Vgl. Eva Cancik-Kirschbaum, Kalender, S. 108. 9 Vgl. Hermann Hunger, „Kalender“, in: Dietz Otto Edzard et al. (Hg.) Reallexikon der Assyriologie und Vorderasiatischen Archäologie, Band 5, Berlin / New York 1976-1980, S. 297. 10 Gen 1,3-5 Luth84; Hervorhebungen nicht im Original. 11 Vgl. Eva Cancik-Kirschbaum, Kalender, S. 107. 12 Vgl. Eva Cancik-Kirschbaum, Kalender, S. 108. 13 Vgl. Art. „Monat“, in: Brockhaus in fünf Bänden, Band 3 ISL - NAP, Leipzig 2004. 14 Möglicherweise liegt die Region des damaligen Mesopotamien hierfür allerdings zu nah am Äquator. 15 Vgl. John M. Steele, Making Sense of Time: Observational and Theoretical Calendars, in: Karen Radner/Eleanor Robson, The Oxford Handbook of Cuneiform Culture, Oxford 2011, S. 479. 16 Vgl. Art. „Monat“, in: Brockhaus. 17 Vgl. John M. Steele, The Length of the Month in Mesopotamian Calendars of the First Millenium BC, in: John M. Steele (Hrsg.), Calendars and Years. Astronomy and Time in the Ancient Near East, Oxford 2007, S. 133. 18 Vgl. John M. Steele, Making Sense, S. 472. 19 Vgl. Hermann Hunger, „Kalender“, in: Dietz Otto Edzard et al. (Hg.) Reallexikon der Assyriologie und Vorderasiatischen Archäologie, Band 5, Berlin / New York 1976-1980, S. 297. 20 Vgl. Hermann Hunger, „Kalender“, S. 298 f. 21 Vgl. Eva Cancik-Kirschbaum, Kalender, S. 112. 22 Vgl. John M. Steele, Making Sense, S. 477. 23 Vgl. John P. Britton, Calendars, Intercalations and Year-Lengths in Mesopotamian Astronomy, in: John M. Steele (Hrsg.), Calendars and Years. Astronomy and Time in the Ancient Near East, Oxford 2007, S. 119. 24 Vgl. John M. Steele, Making Sense, S. 475. 25 Vgl. Sacha Stern, Calendars in Antiquity. Empires, States, and Societies, Oxford 2012, S. 100. 26 Vgl. John M. Steele, Making Sense, S. 478. 27 Vgl. John M. Steele, Making Sense, S. 474. 28 Vgl. Sacha Stern, Calendars, S. 129. 29 Bürgerliches Gesetzbuch, München: Beck 2011.