Inwiefern ist die Verneinung des Willens nach Schopenhauer möglich?

Der vermeintliche Pessimist Arthur Schopenhauer zeichnet ein Bild einer Welt voller Leid. Leben ist Leiden. Als Ausweg bietet er neben der Kunst das Heilmittel der Willensverneinung an. Dieses ist Thema der vorliegenden Arbeit. Sie will zeigen, wie eine Willensverneinung nach Schopenhauer möglich ist und inwiefern er dafür plausibel argumentiert. Dafür müssen wir aus zwei Gründen einen Umweg in Kauf nehmen, und klären, was für Schopenhauer Leben ist. Erstens erhalten wir zwei Motive für die Willensverneinung und zweitens sehen wir, warum er welche Schritte zur Verneinung nennt. Außerdem erlaubt die Erläuterung seiner metaphysischen Grundlagen uns auch, die beiden zentralen Probleme der Schopenhauerschen Willensverneinung zu verstehen.

Im ersten Teil wird also zunächst dargestellt, welche metaphysischen Grundlagen Schopenhauer voraussetzt. Es wird gezeigt, was Schopenhauer unter Leben versteht, welche Formen des Lebens es gibt und weshalb es eines Heilmittels bedarf. Das eudaimonische und moralische Grundübel der Lebensbejahung und ihre drei Arten der Auslebung werden darauf thematisiert.

Im zweiten Teil geht es um die Willensverneinung. Erstens soll herausgearbeitet werden, was das Ziel der Willensverneinung ist. Zweitens werden die Schritte der Willensverneinung erläutert und auf ihre Plausibilität geprüft. Im dritten Schritt geht es darum, wie die Willensverneinung möglich ist. Dabei soll gezeigt werden, welche Motivationen zu ihr führen und inwiefern die Schritte den Willen erfolgreich verneinen. Außerdem wird diskutiert, welcher Schritt tatsächlich verhältnismäßig sind und wie Schopenhauers Metaphysik sich dazu verhält.

Inhaltsverzeichnis

Was ist Leben nach Schopenhauer?

Vier Objektivationsstufen des Willens

Während Immanuel Kant dafür argumentiert, dass das Ding an sich bzw. Erscheinungen unabhängig vom Subjekt unerkannt bleiben[1] und unsere Erkenntnis auf Erscheinungen beschränkt ist, sieht Schopenhauer in der Introspektion einen Zugang zum Ding an sich.[2] Arthur Schopenhauer nennt Kants Ding an sich nach dem anschaulichsten Merkmal, das wir in uns selbst als unser Wollen kennen,[3] „Wille“ (denominatio a potiori).[4] Diese Wille steckt nach Schopenhauer hinter allen Erscheinungen:

„Ding an sich aber ist allein der Wille: als solcher ist er durchaus nicht Vorstellung, sondern toto genere von ihr verschieden: er ist es, wovon alle Vorstellung, alles Objekt, die Erscheinung, die Sichtbarkeit, die Objektität ist. Er ist das Innerste, der Kern jedes Einzelnen und ebenso des Ganzen: er erscheint in jeder blindwirkenden Naturkraft: er auch erscheint im überlegten Handeln des Menschen; welcher beiden große Verschiedenheit doch nur den Grad des Erscheinens, nicht das Wesen des Erscheinenden trifft.“[5]

Um die Bedeutung des Willens in Schopenhauers Werken zu verstehen, kann man mit Blick auf die gerade etablierte Gleichung (Ding an sich = Wille) den Gegensatz zwischen Allgemeinem und Einzelnen, den Schopenhauer in seinem System zentral behandelt (Wille–Vorstellung), seiner Zusammenstellung der Begriffe der Veden (Sg.: Veda), der Sammlung religiöser Texte im Hinduismus, den Begriffen Kants und Platons beifügen:[6]

  Allgemeines Einzelnes
Platon Idee Das Werdende, nie Seiende
Kant Ding an sich Erscheinung
Veda Weisheit Maja
Schopenhauer Wille Vorstellung

Diese von Schopenhauer bereits vereinfachte Zusammenstellung kann darüber hinwegtäuschen, dass es nach Schopenhauer bloß einen Willen gibt,[7] der wiederum „Quelle aller Erscheinungen“[8] ist.[9] Die metaphysische Einheit drückt Schopenhauer klar aus:

„Denn, wenn auch wahrscheinlich die Herren alle mit mir der Meinung sind, daß in allen Erscheinungen dieser Welt das innere Wesen, das Erscheinende, das Ansich der Dinge, überall das selbe ist und der Unterschied der Erscheinungen eigentlich bloß den Grad der Sichtbarwerdung desselben betrifft;“[10]

Schopenhauer liest Kant, als habe dieser geschlossen, Zeit, Raum und Kausalität könnten keine Bestimmungen des Dinges an sich sein,[11] nicht als habe er bloß dafür argumentiert, dass wir unsere Anschauung notwendig raumzeitlich und kausal strukturiert ist. Da ohne Zeit kein Nacheinander und ohne Raum kein Nebeneinander möglich ist, schließt Schopenhauer, dass das Ding an sich außerhalb der Möglichkeiten von Vielheit ist.[12]

Nach Schopenhauer will der Wille Leben und daher sind alle Erscheinungen Objektivationen des Willens (zum Leben[13]), obgleich sich dieser unterschiedliche Grade erreicht und nicht alle davon Leben sind.[14]

In Arthur Schopenhauers Probevorlesung in Berlin 1820 definiert er vier Klassen von in Raum und Zeit erscheinenden Wesen und vier die Wesen definierende Arten von Ursachen: leblose Körper, Pflanzen, Tiere und Menschen. Diese unterscheiden sich darin, welche Ursachen auf sie wirken. Wesen, die einen höheren Grad an Willensobjektivation aufweisen, reagieren auf mehr Ursachen. Die niedrigste Art von Ursachen ist bei Schopenhauer die Ursache im engeren Sinne, die, wie ihre Wirkung, messbar und berechenbar ist. Sie ist Gegenstand der Mechanik, Physik und Chemie und wirkt auf alle Wesen: Man kann bspw. organische und anorganische Materie erhitzen oder verdichten.[15]

Die nächsthöhere Art von Ursachen betrifft bei Schopenhauer nicht die anorganische Natur, sondern bloß Pflanzen, Tiere und Menschen. Im Gegensatz zur ersten Ursachenart findet sich bei dieser, den Reizen, keine Gleichmäßigkeit zwischen Ursache und Wirkung. Eine kleine Veränderung an Reizintensität kann eine Reaktion erst auslösen oder gar stoppen:

„Z.B. Pflanzen können bekanntlich durch Wärme oder der Erde beigemischte[n] Kalk zu einem außerordentlich schnellen Wachstum getrieben werden, indem jene Ursachen als Reize ihrer Lebenskraft wirken: wird jedoch hiebei der Grad des Reizes um ein weniges überschritten, so wird der Erfolg statt des erhöhten und beschleunigten Lebens, der Tod der Pflanze seyn. Ferner können wir durch Wein oder Opium unsre Geisteskräfte anspannen und beträchtlich erhöhen: wird aber das Maas des Reizes überschritten; so wird der Erfolg grade der entgegengesetzte seyn.“[16]

Anschauliche Motive wirken auf alle Tiere (menschliche wie nicht-menschliche). Sie sind Reize, die mithilfe des Verstandes auf den Charakter einwirken. Allen Tieren schreibt Schopenhauer einen Verstand zu:

„Da ich als Karakter der nicht auf bloße Ursachen, noch auf Reize, sondern auf Motive sich bewegenden Wesen, d.i. der Thiere, das Erkennen nachgewiesen habe; so folgt, da alle Anschauung nur im Verstande da ist; daß alle Thiere Verstand haben.“[17]

Die unterschiedlichen Grade der Objektivation des Willens finden sich auch stets innerhalb der Kategorien von Wesen, bspw. bei den Tieren:

„Von diesem niedrigsten Grade eines noch dumpfen Erkennens erhebt sich nun, in den verschiedenen Thiergattungen, der Verstand durch unzählige Abstufungen, bis zur Sagacität des Hundes, des Elephanten, des Affen: an welchen wir recht beobachten können, wieviel der bloße Verstand ohne Vernunft vermag, und wohin er nicht reicht; z.B. beim Oran Utang nicht bis zum Unterhalten des Feuers an dem er sich wärmt. So höchst verschieden aber auch die Grade des Verstandes bei den Thieren und auch bei den Menschen sind; so ist doch seine Form überall dieselbe, und seine Funktion eine einzige, einfache, formelle: Erkenntniß der Kausalität, Uebergang von Wirkung zu Ursach und von Ursach zu Wirkung, nichts weiter. Alles was man Klugheit, Penetration nennt, ist Schärfe, Schnelligkeit, Feinheit, in der Anwendung jener einen Funktion; Stumpfheit in derselben ist Dummheit.“[18]

Der Unterschied zwischen Tieren (im engeren Sinne) und Menschen ist die Vernunft und damit die Empfänglichkeit für abstrakte Motive (4. Ursache):

„Der Mensch muß dagegen Vorstellungen haben, die nicht anschaulich, und deshalb unabhängig vom äußern Eindruck, vom Zeitpunkt und vom Ort sind. Das Vermögen zu diesen Vorstellungen muß jene Vernunft seyn, der man zu allen Zeiten und überall die dargelegten den Menschen allein auszeichnenden Aeußerungen zuschrieb, und in Beziehung auf dieselben sein Thun, je nachdem es ausfiel, vernünftig oder unvernünftig nannte. Als jene Vorstellungen finden wir in uns die Begriffe: sie sind nicht anschauliche, sondern abstrakte, nicht einzelne in Raum und Zeit, sondern allgemeine Vorstellungen: generalia, universalia; sie sind bloße Vorstellungen von Vorstellungen;“[19]

Leben ist für Schopenhauer also etwas, das Pflanzen, Tieren und Menschen zukommt. Eine scharfe Definition nennt er nicht. Lebewesen ordnet er grob hierarchisch nach ihrer Empfänglichkeit für Reize.

Die Schlechtigkeit des Lebens

Um zu verstehen, wie der Gedanke der Willensverneinung plausibel erscheinen kann, muss zunächst dargestellt werden, was das Leben in seinen unterschiedlichen Formen (Objektivationsgrade) ausmacht. Wie stellt sich aus Schopenhauers Sicht das Leben dar?

Der metaphysische Wille ist irrational, will stets,[20] ist blind,[21] grundlos[22] und in Form seiner Objektivationen (Anorganisches, Pflanzen, Tiere und Menschen) streitet er sich mit sich selbst um Materie und verzehrt sich ständig selbst:[23]

„Die deutlichste Sichtbarkeit erreicht dieser allgemeine Kampf in der Thierwelt, welche die Pflanzenwelt zu ihrer Nahrung hat, und in welcher selbst wieder jedes Thier die Beute und Nahrung eines andern wird, d.h. die Materie, in welcher seine Idee sich darstellte, zur Darstellung einer andern abtreten muß, indem jedes Thier sein Daseyn nur durch die beständige Aufhebung eines fremden erhalten kann; so daß der Wille zum Leben durchgängig an sich selber zehrt und in verschiedenen Gestalten seine eigene Nahrung ist, bis zuletzt das Menschengeschlecht, weil es alle anderen überwältigt, die Natur für ein Fabrikat zu seinem Gebrauch ansieht, dasselbe Geschlecht jedoch auch, wie wir im vierten Buche finden werden, in sich selbst jenen Kampf, jene Selbstentzweiung des Willens zur furchtbarsten Deutlichkeit offenbart, und homo homini lupus wird.“[24]

Die Welt besteht demnach aus dem Willen, der Quelle (aber nicht kausalen Ursache[25]) der Vorstellung, in der die Objektivationen des Willens miteinander streiten und nicht sehen, dass sie eins sind. Der Schleier der Maya (bzw. Vorstellung oder principio individuationis) verhüllt den Individuen, dass sie eins sind. Vielfach argumentiert Schopenhauer mit Beobachtungen dafür:

„In dieser Art liefert aber das grellste Beispiel die Bulldogs-Ameise (bulldog-ant) in Australien: nämlich wenn man sie durchschneidet, beginnt ein Kampf zwischen dem Kopf- und dem Schwanztheil: jener greift diesen mit seinem Gebiß an, und dieser wehrt sich tapfer, durch Stechen auf jenen: der Kampf pflegt eine halbe Stunde zu dauern, bis sie sterben, oder von anderen Ameisen weggeschleppt werden. Der Vorgang findet jedes Mal Statt.“[26]

Höhere Lebewesen, wie wir Menschen, haben nach Schopenhauer auch eine höhere Empfänglichkeit für Leid. Damit rechtfertigt er das Leben auf Kosten anderer Lebewesen zu einem gewissen Grad:

„Das Recht des Menschen auf das Leben und die Kräfte der Thiere beruht darauf, daß, weil mit der Steigerung der Klarheit des Bewußtseyns das Leiden sich gleichmäßig steigert, der Schmerz, welchen das Thier durch den Tod, oder die Arbeit leidet, noch nicht so groß ist, wie der, welchen der Mensch durch die bloße Entbehrung des Fleisches, oder der Kräfte des Thieres leiden würde, der Mensch daher in der Bejahung seines Daseyns bis zur Verneinung des Daseyns des Thieres gehen kann, und der Wille zum Leben im Ganzen dadurch weniger Leiden trägt, als wenn man es umgekehrt hielte. Dies bestimmt zugleich den Grad des Gebrauchs, den der Mensch ohne Unrecht von den Kräften der Thiere machen darf, welchen man aber oft überschreitet, besonders bei Lastthieren und Jagdhunden; wogegen daher die Thätigkeit der Thier-Schutz-Gesellschaften besonders gerichtet ist. Auch erstreckt jenes Recht, meiner Ansicht nach, sich nicht auf Vivisektionen, zumal der oberen Thiere. Hingegen leidet das Insekt durch seinen Tod noch nicht so viel, wie der Mensch durch dessen Stich.“[27]

Nach Schopenhauer ist der Wille auch im Menschen zunächst getäuscht vom Schleier der Maja.

„Freilich aber stellt sich der Erkenntniß, so wie sie, dem Willen zu seinem Dienst entsprossen, dem Individuo als solchem wird, die Welt nicht so dar, wie sie dem Forscher zuletzt sich enthüllt, als die Objektität des einen und alleinigen Willens zum Leben, der er selbst ist; sondern den Blick des rohen Individuums trübt, wie die Inder sagen, der Schleier der Maja: ihm zeigt sich, statt des Dinges an sich, nur die Erscheinung, in Zeit und Raum, dem principio individuationis, und in den übrigen Gestaltungen des Satzes vom Grunde: und in dieser Form seiner beschränkten Erkenntniß sieht er nicht das Wesen der Dinge, welches Eines ist, sondern dessen Erscheinungen, als gesondert, getrennt, unzählbar, sehr verschieden, ja entgegengesetzt.“[28]

Mit Schopenhauer scheint die Unkenntnis für das principio individuationis Ursache für moralische Schlechtigkeit zu sein:

„(Der Sinn des bösen Menschen ist vom Schleier des Maja umhüllt:) d.h. seine Erkenntniß ist gänzlich befangen im principio individuationis: diesem gemäß sieht er seine eigne Person an als gänzlich verschieden von jeder andern und er setzt eine weite Kluft zwischen seiner und jeder andern Person.“[29]

Die Sphäre des Einzelnen ist geprägt vom Krieg mit einzelnen Erscheinungen, von Kampf, Geiz, Zorn, Egoismus und Laster.[30]

Nach Schopenhauer ist also das Leben aufgrund des Wettbewerbs der Erscheinungen ein einziger Kampf, aus dem schließlich das Leid resultiert. Doch selbst ohne andere Lebewesen ist für Schopenhauer das Leben voller Leid, wie im Folgenden gezeigt wird.

Jede Stufe der Objektivationen ist von Leid betroffen. Leid gehört notwendig zum Leben, da der metaphysische Wille immer strebt und weder Ziel noch Zweck hat.[31] Dies beobachtet Schopenhauer in den einfachsten Erscheinungen, wie der Gravitation, die immerzu als Schwere wirkt und unaufhörlich u.a. auf Steine wirkt. Er beobachtet das bei Pflanzen, die ohne Ruhepunkt den Kreislauf vom Samen bis zu der vollentwickelten Pflanze durchmacht.[32]

Das unaufhörliche Streben ohne Maß und Ziel tritt bei Menschen und Tieren schließlich ins Bewusstsein und verursacht Leid.[33]

Schopenhauer definiert Glück gleich doppelt negativ: Einerseits sind Glück und Wohlsein lediglich Folge einer erfolgreichen Behebung eines Mangels, andererseits spürt man den Mangel, während man die Abwesenheit des Mangels bloß im Augenblick der Befriedigung spürt:

„Wir fühlen den Schmerz, aber nicht die Schmerzlosigkeit; wir fühlen die Sorge, aber nicht die Sorglosigkeit; die Furcht, aber nicht die Sicherheit. Wir fühlen den Wunsch, wie wir Hunger und Durst fühlen; sobald er aber erfüllt worden, ist es damit, wie mit dem genossenen Bissen, der in dem Augenblick, da er verschluckt wird, für unser Gefühl dazuseyn aufhört. Genüsse und Freuden vermissen wir schmerzlich, sobald sie ausbleiben: aber Schmerzen, selbst wenn sie nach langer Anwesenheit ausbleiben, werden nicht unmittelbar vermißt, sondern höchstens wird absichtlich, mittelst der Reflexion, ihrer gedacht. Denn nur Schmerz und Mangel können positiv empfunden werden und kündigen daher sich selbst an: das Wohlseyn hingegen ist bloß negativ. Daher eben werden wir der drei größten Güter des Lebens, Gesundheit, Jugend und Freiheit, nicht als solcher inne, so lange wir sie besitzen; sondern erst nachdem wir sie verloren haben: denn auch sie sind Negationen. Daß Tage unsers Lebens glücklich waren, merken wir erst, nachdem sie unglücklichen Platz gemacht haben.“[34]

Sobald ein Mangel behoben ist, beginnt das Streben aufs Neue.[35] Der fortwährende Versuch, Bedürfnisse zu befriedigen, ist für Schopenhauer ein steter Kampf um die Existenz, der mit Gewissheit eines Tages verloren wird.[36] Falls der Mensch es doch mal schafft, alle Bedürfnisse zu befriedigen und Ruhe zu haben, plagt ihn die Langeweile:[37] Das Leiden der Lebewesen scheint also unausweichlich und wiederholt sich endlos durch die Generationen.[38] Schopenhauer schreibt:

„Ein glückliches Leben ist unmöglich: das höchste, was der Mensch erlangen kann, ist ein heroischer Lebenslauf.“[39]

Wie ist Willensbejahung möglich?

Die Bejahung des Willens bedeutet, stets zu versuchen, Bedürfnisse zu befriedigen.[40] Laut Schopenhauer leben die meisten Menschen so. Ihr Denken beschäftigt sich als Bediensteter des Willens bloß mit der Wahl der Mittel zur Erreichung der vom Willen vorgegeben Ziele.[41]

Konkret bedeutet erstens, dass man sich um die Erhaltung und Gesundheit des Leibes bemüht,[42] und durch Schlaf, Nahrung usw. den Tod stets weiter hinaus schiebt (um am Ende doch zu sterben).[43] Dies ist die geringste Form der Bejahung des Willens:

„Die Ernährung des Leibes befriedigt allemal den Willen und ist ein Genuß, d.h. eine Bejahung des Willens: aber dieser Genuß wird gänzlich aufgewogen durch die Anstrengung und Mühseligkeit der Arbeit. Sein Brod essen im Schweiße seines Angesichts.“[44]

Zweitens geht die Bejahung des eigenen Willens durch die Befriedigung des Geschlechtstriebes und Zeugung eines neuen Individuums über den eigenen Leib hinaus. Bereits die Befriedigung der Geschlechtslust bezeichnet Schopenhauer als einen Sündenfall,[45]

Diese Form der Bejahung ist nach Schopenhauer Unrecht,[46] da für ihn das Leben Leiden ist und der Erzeuger dies einem neuen Individuum antut:

„Das Leben stellt sich dar als eine Aufgabe, ein Pensum zum Abarbeiten, und daher, in der Regel, als ein steter Kampf gegen die Noth. Demnach sucht Jeder durch und davon zu kommen, so gut es gehen will: er thut das Leben ab, wie einen Frohndienst, welchen er schuldig war. Wer aber hat diese Schuld kontrahirt? – Sein Erzeuger, im Genuß der Wollust.“[47]

Die dritte Form der Bejahung Willens zum Leben ist auch eine auf Kosten anderer, allerdings auf Kosten bereits lebender Menschen. Dabei überschreitet der Unrecht-Ausübende die Sphäre der möglichen Willensbejahung anderer:[48] Das heißt, man verneint den Willen anderer (welcher derselbe ist, aber als eine andere Objektivation). Das geschieht nach Schopenhauer mittels der „Unterjochung des andern Individuums“[49] (Sklaverei), „im Angriff des fremden Eigenthums, welcher, sofern dieses als Frucht seiner Arbeit betrachtet wird“[50] (Diebstahl), Mord oder gar Kannibalismus.[51]

Tiere können ihren Willen nur bejahen. Den anschaulichen Motiven, die auf ihren Charakter wirken, müssen Tiere hinterherjagen. Einen Ausweg gibt es nur für Menschen:

„Die Bejahung des Willens zum Leben, welche demnach ihr Centrum im Generationsakt hat, ist beim Thiere unausbleiblich. Denn allererst im Menschen kommt der Wille, welcher die natura naturans ist, zur Besinnung.“[52]

Willensverneinung

Was ist das Ziel der Willensverneinung?

Zum Leben gehört für Schopenhauer, wie oben bereits ausgeführt, notwendig Leid. Die Willensbejahung führt darüber hinaus zu weiterem Leid. Schopenhauer verspricht die Möglichkeit der Erlösung mittels Willensverneinung, falls man diesem theoretisch dargelegten Weg folgen sollte:

„Wir haben ferner das Daseyn als dem Leiden wesentlich verknüpft erkannt: natürlich erhebt sich die Frage, ob wir denn diesem leidenden Daseyn durch ein unwiderrufliches Fatum auf ewig anheim gefallen sind oder ob es eine Erlösung davon giebt: denn daß der Tod nicht aus der Welt herausführt, ist gezeigt, so wenig als die Geburt eigentlich hineinführt: nur unsre Erscheinung hat Anfang und Ende, nicht unser Wesen an sich. Ueber dieses alles nun giebt dies letzte Kapitel einen Aufschluß und ist sonach der Schlußstein des Ganzen. Ihre Beistimmung bleibt frei. Immer aber bemerken Sie ein für allemal, daß alle meine ethischen Betrachtungen nie die Form des Gesetzes oder Vorschrift haben, ich nie sage man soll dies thun und jenes nicht: sondern ich immer nur mich theoretisch verhalte und das Thun jeder Art auslege, deute, was im Innern dabei vorgeht darlege in Begriffen.“[53]

Die Willensverneinung soll auch ermöglichen können, was die ästhetische Anschauung nach Schopenhauer bieten kann: Willenslosigkeit[54]. Ohne Willen gibt es keinen wahrgenommenen Mangel, keine Bedürfnisse und kein Leid. Ziel ist es, „allem Leiden den Zugang zu verschließen, uns zu reinigen und zu heiligen“[55]. Dafür sind nach Schopenhauer Selbstverleugnung, Resignation, Aufgeben alles Wollens, eine „völlige Umkehrung der menschlichen Natur“ nötig.[56]

Welche Formen der Willensverneinung gibt es nach Schopenhauer?

Jede der drei Formen der Willensbejahung ist ein Eingriff in die Sphäre anderer Objektivationen, da alle um Materie konkurrieren. Um das eigene Leben zu erhalten, müssen wenigstens Pflanzen gegessen werden, oftmals werden auch Tiere gegessen. Diese geringe Form der Willensbejahung betreibt man notgedrungen. Der aus dem „höchsten Grade der Askese freiwillig gewählte Hungertod“[57] ist eine Ausnahme, die Schopenhauer positiv erwähnt.[58] Hingegen bezeichnet der junge Schopenhauer den „gewöhnlichen Selbstmord“ als ein unsinniges Vorhaben, bei welchem der Wille nicht aufgehoben würde, sondern nur eine Erscheinung des Willens.[59] Er unterscheidet scharf zwischen beiden Formen des Suizids: Im Hungertod sieht er die Verneinung des Willens und im „gewöhnlichen“ Selbstmord sieht er nicht die Verneinung des Willens.[60] Dieser gebe nicht den Willen zum Leben auf, sondern wende sich nur gegen die Umstände des eigenen Lebens.[61] Er verneine bloß das Individuum, nicht die Spezies; sowie der Sonnenuntergang auch den Sonnenaufgang nicht verhindert. Der Selbstmörder bejaht, wie Schopenhauer paradoxerweise feststellt, das Leben.[62] Dem Selbstmörder dürfte dies egal sein, da er seine personelle Identität nicht an den Erhalt der Spezies gekoppelt ist, wie auch der alte Schopenhauer wusste:

„Der Selbstmord kann auch angesehn werden als ein Experiment, eine Frage, die man der Natur stellt und die Antwort darauf erzwingen will: nämlich, welche Aenderung das Daseyn und die Erkenntniß des Menschen durch den Tod erfahre. Aber es ist ein ungeschicktes: denn es hebt die Identität des Bewußtseyns, welches die Antwort zu vernehmen hätte, auf.“[63]

Aber: Es klingt plausibel, dass die Willensverneinung nur in einem der beiden Suizidfällen stattfindet. Nur im Falle des Hungertods wird gegen eigene unmittelbare Bedürfnisse gehandelt. Doch entscheidend sollte das nicht sein. Die Willensverneinung scheint hier mehr Selbstzweck zu sein, sollte allerdings Individuen dienen, das Leiden zu beenden.

Die Befriedigung des Sexualtriebes und die Zeugung gehen bei Schopenhauer meist Hand in Hand: Onanie scheint ihm erstens als eine widernatürliche Kinderkrankheit[64] zu sein und zweitens meint er, dass die durch „bloße Phantasie entstehende Aufreizung der Genitalien viel schwächender“[65] und auf sie leichter zu verzichten ist. Für Schopenhauer geht es also sowohl um Geschlechtsverkehr als auch seine Folgen: Die Wollust ist ein Leiden, und die Fortpflanzung führt das Leiden in die nächste Generation.

Schopenhauer hätte Nietzsche, der das Christentum als „Religion gewordne Verneinung des Willens zum Leben“[66] bezeichnete, zumindest mit Blick auf den Geschlechtsakt widersprochen:

„Einige Kirchenväter haben gelehrt, daß sogar die eheliche Beiwohnung nur dann erlaubt sei, wann sie bloß der Kindererzeugung wegen geschehe. […] Dieselbe ist jedoch, genau genommen, irrig. Denn, wird der Coitus nicht mehr seiner selbst wegen gewollt; so ist schon die Verneinung des Willens zum Leben eingetreten, und dann ist die Fortpflanzung des Menschengeschlechts überflüssig und sinnleer; sofern der Zweck bereits erreicht ist. Zudem, ohne alle subjektive Leidenschaft, ohne Gelüste und physischen Drang, bloß aus reiner Ueberlegung und kaltblütiger Absicht einen Menschen in die Welt zu setzen, damit er darin sei, – dies wäre eine moralisch sehr bedenkliche Handlung, welche wohl nur Wenige auf sich nehmen würden, ja, der vielleicht gar Einer nachsagen könnte, daß sie zur Zeugung aus bloßem Geschlechtstrieb sich verhielte wie der kaltblütig überlegte Mord zum Todtschlag im Zorn. […]“[67]

Es geht für Schopenhauer nicht darum, „keinen Spaß zu haben“, sondern aus der Tretmühle der Bedürfnisse herauszutreten und keine weiteren Menschen auf die Welt zu bringen.

Die dritte Form der Willensverneinung ist der Verzicht auf den Eingriff in die Sphäre anderer Menschen (Diebstahl oder Mord). Dieser ergibt sich aus der Entsagung der Bedürfnisse.

Wie ist Willensverneinung möglich?

Die Verneinung des Willens bedeutet, dem Willen nicht zu geben, was er will. Man lebt asketisch und keusch. Entweder erkennt man den Widerspruch des Kampfes aller gegen alle und die gemeinsame Identität aller Wesen, oder man fühlt über im Mitleid die gemeinsame Identität.[68] Wie soll man nach Schopenhauer zur Willensverneinung gelangen? Führen Disziplin und konsequentes Ignorieren der Bedürfnisse dazu, eines Tages bedürfnislos zu sein? Das muss schließlich das Ziel sein, da diese neben dem Kampf der Individuationen des Willens um Ressourcen die Hauptquelle des menschlichen Leides sind. Oder gibt es gar einen anderen Weg als Disziplin?

Der erste Schritt, den Schopenhauer vorgibt, ist die „freiwillige, vollkommne Keuschheit, die aber durch kein Motiv veranlaßt seyn muß“.[69] In unserem Fall haben wir für dieses Handeln ein Motiv, nämlich die versprochene Gelassenheit und Willenslosigkeit. Dies ist ein abstraktes Motiv, wozu einzig Menschen fähig sind. Aber notwendig ist es nach Schopenhauer nicht.

Die Keuschheit ist nicht nur aus den beiden o.g. Gründen wichtig für Schopenhauer, sondern auch, weil sie für ihn erstens Gegenpol der Erkenntnis und zweitens der zentrale Akt der Willensbejahung ist, wie er vielfach ausführt: [70]

„Diesem allen zufolge sind die Genitalien der eigentliche Brennpunkt des Willens und folglich der entgegengesetzte Pol des Gehirns, des Repräsentanten der Erkenntniß, d.i. der andern Seite der Welt, der Welt als Vorstellung. Jene sind das lebenerhaltende, der Zeit endloses Leben zusichernde Princip; in welcher Eigenschaft sie bei den Griechen im Phallus, bei den Hindu im Lingam verehrt wurden, welche also das Symbol der Bejahung des Willens sind. Die Erkenntniß dagegen giebt die Möglichkeit der Aufhebung des Wollens, der Erlösung durch Freiheit, der Ueberwindung und Vernichtung der Welt.“[71]

Wenn der Weg der Willensverneinung motiviert durch abstrakte Erkenntnis beschritten wird, ist die geschlechtliche Aktivität in doppeltem Sinne hinderlich, da sie zum einen das Gegenteil ist und zum anderen Erkenntnis behindert:

„Was dem Gehirn der Schlaf ist, ist dem entgegengesezten Pol, den Genitalien, ihr gewöhnlicher Zustand, d.h. ein ungefähr bewußtloser: die Erektion aber ist das Erwachen der Genitalien, sie werden unmittelbarer Siz eines Bewußtseyns, das aber eine der des Gehirns entgegengesezte Tendenz hat. Daher, weil immer nur ein Pol zur Zeit die gesteigerteste Energie zeigt und der andre derweilen eine um so schwächre, Pollutionen während das Gehirn schläft, Neigung zu Erektionen an Tagen wo man sich schläfrig und dumpf fühlt, auch nach dem Essen bei eintretendem Mittagsschlaf: daher höchst gesteigerte Geistesthätigkeit unmöglich während einer Erektion da seyn kann.“[72]

Der zweite Schritt ist nach Schopenhauer die „freiwillige und absichtliche Armuth“[73], da man sich der Mittel entledigt, um die Wünsche zu befriedigen. Nach diesen ersten zwei Schritten scheint es so, als habe man nichts weiter getan, als Bedürfnisse unbefriedigt zu lassen und sich gar der Möglichkeiten der Befriedigung beraubt. Da aus Schopenhauers Perspektive bereits unmittelbar auf die Befriedigung eines Wunschs ein neuer Wunsch entsteht, könnte man analog zu einer alten Fußballerweisheit sagen: „Nach der Befriedigung ist vor der Befriedigung.“ Der Unterschied liegt wohl aber darin, dass man weniger Stress hat, da man nicht mehr bemüht ist, Bedürfnisse zu befriedigen. Man hat die Bedürfnisse noch, aber man unterdrückt sie „absichtlich, indem er sich zwingt nichts zu thun von Allem was er wohl möchte, hingegen alles zu thun, was er nicht möchte, selbst wenn es weiter keinen Zweck hat, als eben den zur Mortifikation des Willens zu dienen.“[74] Hier wird es paradox: Nicht nur soll[75] man nicht versuchen, Bedürfnisse zu befriedigen, sondern man soll sogar zusätzliches Leid mit Geduld willkommen heißen:

„Darum ist ihm dann auch jedes Leid willkommen, das von Außen auf ihn kommt, durch Zufall oder fremde Bosheit, jeder Schaden, jede Schmach, jede Beleidigung: er empfängt sie freudig, als die Gelegenheit sich selber die Gewißheit zu geben, daß er den Willen nicht mehr bejaht, sondern freudig die Partei jedes Feindes der Willenserscheinung, die seine eigene Person ist, ergreift. Er erträgt daher solche Schmach und Leiden mit unerschöpflicher Geduld und Sanftmuth; er vergilt alles Böse mit Gutem, ohne Ostentation, und läßt das Feuer des Zornes, so wenig als das der Begierde je wieder in sich erwachen.“[76]

Da sind wir bereits beim dritten Schritt, der „freiwillige[n] Auflegung körperlicher Beschwerden“[77]. Wer so lebt und mehr und mehr Leid sich aufbürdet, dem ist der Tod eine freudige Erlösung.[78] Diesen lobt – wir erinnern uns an den Hungertod – Schopenhauer, weil er nicht nur seine Erscheinung, sondern das Ding an sich, den Willen zum Leben verneint.

Zwei Probleme bereitet sich Schopenhauer hier: Erstens geht er von dem einen Willen aus, schließlich sind seiner Metaphysik zufolge alle Wesen eins. Die Verneinung einer Erscheinung erlöscht bei ihm Willen und Vorstellung, obwohl keiner Erscheinung/Objektivation ein konkreter einzelner Wille zugeordnet ist – anders bei Philipp Mainländer, dem Offenbacher Schopenhauer-Schüler, der dies kritisierte und aus diesem Grund auch den Suizid gutheißt[79] und praktizierte. Dieses Problem drückt sich auch darin aus, dass der ungeteilte Wille, der in jedem Lebewesen erscheint und in allen derselbe ist,[80] aber nicht dadurch erlischt, dass ein „Heiliger“ ihn ein für alle Mal verneint.[81]

Das zweite Problem ist die bereits erwähnte Frage der personellen Identität: Wenn sich der Wille bei Schopenhauer wieder und wieder in neuem Leben objektiviert („Dem Willen zum Leben ist also das Leben gewiß“[82]), ist das nicht das Problem des bereits Gestorbenen.

Keuschheit, Armut und Kasteiung sind also die Schritte der Willensverneinung.[83] Dazu kann man durch abstrakte Erkenntnis motiviert sein und dies durch Disziplin erreichen. Für Schopenhauer gibt es eine zweite Motivation. Im Mitleid überwinden wir die Grenzen des principii individuationis, den Schleier der Maja:

„Wann was uns zum Weinen bewegt, nicht das eigne Leiden ist, sondern fremdes, so geschieht dies dadurch, daß wir, in der Phantasie, uns lebhaft an die Stelle des Leidenden versetzen, oder auch in seinem Schicksal das Loos der ganzen Menschheit erblicken, folglich auch vor Allem unser eignes: dann also weinen wir, durch einen weiten Umweg, doch immer wieder über uns selbst, indem wir Mitleid mit uns selbst empfinden.“[84]

Wodurch ein Mensch dazu motiviert wird – abstrakte Erkenntnis oder Mitleid – ist für Schopenhauer im Ergebnis gleich:

„Ein Heiliger kann voll des absurdesten Aberglaubens seyn, oder er kann umgekehrt ein Philosoph seyn: beides gilt gleich: sein Thun allein beurkundet ihn als Heiligen“[85]

Fazit

Die Arbeit hat gezeigt, wieso nach Schopenhauer ein Heilmittel notwendig ist. Er zeichnet ein Bild einer Welt voller Leid, das zum einen im Wettbewerb mit anderen Lebewesen um Ressourcen, und zum anderen in uns selbst begründet liegt. Wenn man an den steigenden Pro-Kopf-Ressourcenverbrauch der Bewohner dieses Planeten und die daraus resultierende Knappheit, oder an das scheinbar relevanter werdende Problem der Instant gratification denkt, ergibt das scheinbar Sinn. Auf den zweiten Blick muss man jedoch die metaphysischen Annahmen Schopenhauers hinterfragen.

Der metaphysische Wille, über den er mehr Aussagen trifft, als er sicher begründen kann,[86] ist die Quelle der Probleme. Er objektiviert sich immer strebend und blind wollend in die vier Kategorien von Erscheinungen, die wir als unbelebte Natur, Pflanzen, Tiere und Menschen kennen. In der Vorstellung begegnet sich der Wille selbst, der nur in seiner höchsten Stufe der Objektivation die Möglichkeit hat, zu erkennen, dass alles Erscheinung des einen Willen ist. Und so kämpft der Wille mit sich selbst und verursacht das Leid, welches er selbst erleidet.

Außerdem ist der Wille der Grund für das ewig Unersättliche an der Existenz der Lebewesen. Keine Bedürfnisbefriedigung stillt das Verlangen endgültig. Immer wieder quälen uns neue Bedürfnisse. Die einzige Ruhe vor diesem Leid ist das Leid der Langeweile. Abhilfe verspricht Schopenhauer mittels der Willensverneinung.

Hält Schopenhauer sein Versprechen? Sind Willenslosigkeit, Ruhe und Erlösung erreichbar? Und sind die vorgeschlagenen Mittel dazu verhältnismäßig? Der metaphysische Wille liegt nach Schopenhauer außerhalb der Zeit und kann daher weder anfangen, noch aufhören. Diesen Willen wird man nicht los. Das einzige Ziel unserer Bemühungen kann dementsprechend der individuelle Wille, dessen Wollen für uns anhand von Bedürfnissen spürbar ist. Diesen Bedürfnissen kann man nachgeben und versuchen, sie zu befriedigen, oder man kann versuchen, sie zu unterdrücken. Letzteres schlägt Schopenhauer vor, um einerseits geheilt zu werden und andererseits ein besserer Mensch zu sein. Einleuchtend ist, dass die Befriedigung eigener Bedürfnisse erstens oftmals schwierig und stressig ist, zweitens nicht immer lebensnotwendig ist und drittens sehr oft im Wettbewerb um Ressourcen zu Lasten anderer leidempfänglicher Lebewesen geht. Damit hat Schopenhauer in seiner Beschreibung des Übels der Bedürfnisse sicher Recht.

Die vorgeschlagenen Mittel weisen allerdings eine Reihe von Problemen auf: Während ein gewisser Grad an Askese und Hinterfragung der Bedürfnisse sinnvoll und beruhigend wirken kann, bereiten Schopenhauers metaphysischen Annahmen Schwierigkeiten. Beispielsweise ist für Schopenhauer das Mittel zum Suizid entscheidend dafür, ob er ihn gutheißt oder nicht. Ein leidvoller freiwilliger Hungertod ist ein erfolgreiches Verneinen des Willens, während bspw. ein Schienensuizid Lebensbejahung wäre. Systematisch ergibt das Sinn, weil das Leiden in einem Fall Bewusst in Kauf genommen wird und im anderen Fall davor geflohen wird. Dass dies in der Konsequenz metaphysisch unterschiedlich zu bewerten ist, kann Schopenhauer nicht überzeugend darlegen. Entweder steckt der eine Willen in allen oder verschiedene Willen erscheinen als Objektivationen. Im ersten Fall könnte, sofern der metaphysische Wille verneinbar wäre, ein Asket den Willen für alle verneinen, und den zweiten Fall schließt er aus, obwohl er dem Asketen und Heiligen die erfolgreiche Verneinung und ewige Erlösung zusichert. Beide Fälle zu vereinen vermochte Schopenhauer nicht überzeugend.[87] In der Welt der Erscheinungen dürfte es für das Individuum keinen Unterschied machen, da, wie Schopenhauer selbst darstellte, die personelle Identität mit dem Tod ein Ende findet.

Ein Argument dafür, dass man Bedürfnisse tatsächlich loswerden kann, indem man sie unterdrückt, hat Schopenhauer nicht. Anstelle einer Willenslosigkeit scheint bloß die Gewöhnung an die Unterdrückung der Bedürfnisse möglich zu sein. Disziplin ist der Weg dorthin.

Besonders schwierig nachvollziehbar ist Schopenhauers dritter Schritt der Willensverneinung, nämlich der Selbstkasteiung. Zusätzliches Leid mag im Sinne der Willensverneinung das Gegenteil der Willensbejahung sein, aber dieser Schritt scheint deutlich über das Ziel hinauszuschießen bzw. sogar das Gegenteil zu erreichen, wenn eine Motivation der Willensverneinung die Leidfreiheit ist. Überhaupt: Ist die Leidfreiheit nicht das Ziel der Lebensbejahung? Willensverneinung und Willensbejahung haben dasselbe Ziel. Man hechelt den Bedürfnissen gerade dafür hinterher. Man will sie befriedigen und das Leid beenden. Eine Ausnahme stellen freilich die Bedürfnisse dar, die nach Maslow keine Defizitbedürfnisse sind.[88]


[1] Vgl. KrV B 164.
[2] Vgl. Manja Kisner: Ding an sich, 82.
[3] Vgl. Deu-I:132.
[4] Vgl. Carlos Javier Ganzález Serrano: Wille zum Leben, 269f.
[5] Deu-I:131.
[6] Vgl. HNI:391.
[7] Vgl. Martin Liebscher: principium individuationis, 210.
[8] Deu-I:216.
[9] Vgl. Margit Ruffing: Gedanke, 113.
[10] Deu-IX:10.
[11] Vgl. Deu-I:143.
[12] Vgl. Deu-I:134.
[13] Die Begriffe „Wille“ und „Wille zum Leben“ werden synonym gebraucht. Vgl. Marie-Michèle Blondin: Leben, 161. – Vgl. Carlos Javier Ganzález Serrano: Wille zum Leben, 269f. – Krampe bezeichnet den Begriff „Wille zum Leben“ einen Pleonasmus, wie Schopenhauer auch selbst (Deu-I:324.). Vgl. Siegfried Krampe: Schopenhauers Erlösungslehre und das Christentum, 138. – Allerdings gibt es Argumente, die dafür sprechen, dass Schopenhauer mehr differenzieren müsste, wie Mockrauer feststellt. Vgl. hierzu Franz Mockrauer: Paul Deussen als Mensch und Philosoph, 58.
[14] Vgl. Marie-Michèle Blondin: Leben, 161.
[15] Vgl. Deu-IX:7ff.
[16] Deu-IX:10f.
[17] Deu-IX:19.
[18] Deu-IX:19.
[19] Deu-IX:22.
[20] Vgl. Carlos Javier Ganzález Serrano: Wille zum Leben, 270f.
[21] Vgl. Deu-I:136.
[22] Vgl. Deu-I:144.
[23] Vgl. Deu-I:175.
[24] Deu-I:175.
[25] Vgl. Deu-I:161.
[26] Deu-I:175f.
[27] Deu-I:440Fu.
[28] Deu-I:416.
[29] D eu-X:512.
[30] Vgl. HNI:391.
[31] Vgl. Deu-X:420u.
[32] Vgl. Deu-X:420u ff.
[33] Vgl. Deu-X:421.
[34] Deu-II:657.
[35] Vgl. Deu-X:422.
[36] Vgl. Deu-I:368.
[37] Vgl. Deu-I:369.
[38] Vgl. Christian H. Sötemann: Leiden, 165.
[39] Deu-V:349.
[40] Vgl. Pilar López de Santa Maria: Bejahung/Verneinung des Willens, 67.
[41] Deu-I:386.
[42] Vgl. Deu-I:386; Deu-X:445.
[43] Vgl. HNI:85; Deu-X:447.
[44] Deu-X:447.
[45] Vgl. Deu-X:449.
[46] Vgl. Deu-X:447.
[47] Deu-II:650.
[48] Vgl. Deu-I:394.
[49] Deu-I:395f.
[50] Deu-I:395f.
[51] Vgl. Deu-I:395f.
[52] Deu-II:653.
[53] Deu-X:537.
[54] Vgl. Deu-X:538.
[55] Deu-X:540.
[56] Vgl. Deu-X:540f.
[57] Deu-I:474.
[58] Vgl. HNI:69.
[59] Vgl. HNI:479.
[60] Vgl. HNI:168.
[61] Vgl. Deu-X:567.
[62] Vgl. Michael Meyer: Willensverneinung und Lebensbejahung, 83.
[63] Deu-V:337.
[64] Vgl. Deu-III:598.
[65] Deu-VI:43.
[66] KSA06:359
[67] Deu-V:344f.
[68] Vgl. Pilar López de Santa Maria: Bejahung/Verneinung des Willens, 68.
[69] Deu-X:542.
[70] Deu-X:451.
[71] Deu-I:390.
[72] HNI:72.
[73] Deu-X:544f.
[74] Deu-X:545.
[75] Schopenhauer geht die Schritte der Willensverneinung theoretisch durch und nimmt für sich in Anspruch, bloß zu deuten (Deu-X:546f.). Er formuliert keinen Imperativ. Allerdings gibt es auch einige wenige Vertreter einer normativen Interpretation. Vgl. Jens Lemanski/Daniel Schubbe: Konzeptionelle Probleme, 47f. – Vgl. Oliver Hallich: Mitleid und Moral, 28ff.
[76] Deu-X:545.
[77] Deu-X:545.
[78] Vgl. Deu-X:546.
[79] Vgl. Philipp Mainländer: Die Philosophie der Erlösung, 240.
[80] Vgl. Deu-II:676.
[81] Vgl. Friedhelm Decher: Wille zum Leben, 38f.
[82] Deu-I:324.
[83] Vgl. HNI:312.
[84] Deu-X:536.
[85] Deu-X:548.
[86] Vgl. Friedhelm Decher: Wille zum Leben, 28.
[87] Vgl. Friedhelm Decher: Wille zum Leben, 38f.
[88] Vgl. A. H. Maslow: A Theory of Human Motivation.

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