F. A. Hayek: evolutionärer vs. konstruktivistischer Rationalismus

  • Von Michael Crass
  • 26. November 2020

Friedrich August Hayek unterscheidet in Recht, Gesetz und Freiheit zwischen einem evolutionären vs. konstruktivistischen Rationalismus, ähnlich wie sein langjähriger Freund Karl Popper, wobei letzterer die Begriffe kritisch (evolutionär) und naiv (konstruktivistisch) gebraucht.

Worum geht es?

Der Rationalismus ist eine erkenntnistheoretische Strömung in der Philosophie, die als Erkenntnisquelle (d.h. Quellen von Wissen), hauptsächlich oder gar ausschließlich rationales Denken sieht. Auch zur Begründung dient hauptsächlich oder gar ausschließlich rationales Denken. Vertreter sind Descartes, Spinoza oder Leibniz. Für René Descartes ist das erkenntnistheoretische Fundament das bekannte „ego cogito, ergo sum“.

Ihnen entgegen werden die Empiristen gestellt, hauptsächlich die Briten Thomas Hobbes, John Locke und David Hume. Als Erkenntnisquelle sind für sie die sinnlichen Erfahrungen zentral, wenn nicht allein entscheidend.

Bei Hayek geht es weniger um Erkenntnistheorie als vielmehr darum, wie gesellschaftliche Institutionen, Gesetze und Traditionen entstehen. Dabei gibt es nach Hayek zwei Denkrichtungen. Dabei werden auch erkenntnistheoretische Empiristen unter Hayeks Spielarten des Rationalismus eingeordnet.

konstruktivistischer Rationalismus

Hayek kritisiert die Vorstellung des konstruktivistischen Rationalismus, nach der "alle gesellschaftlichen Institutionen das Ergebnis wohlüberlegten Entwurfs sind und sein sollten" (S.7). Als gesellschaftliche Institutionen werden dabei klassischerweise Regeln und Strukturen von Moral, Religion, Recht, Sprache, Schrift, Geld und Markt bezeichnet (S.12).

Konstruktivistische Rationalisten wie Descartes, Rousseau oder Hobbes würden Tradition, Gewohnheit und Geschichte verachten und mittels der Vernunft von vorne beginnen wollen (S.12). Erfahrungen und Gebräuche dürften keinen Bestand haben, wenn sie nicht auch rational zu billigen wären. Ergebnisse der Vorstellung, dass wir mittels der Vernunft "unumschränkte Macht" (S.10) haben und alles gestalten können, sind Gesellschaftsverträge.

Zwei Einwände hat Hayek zu dieser Vorstellung. Erstens sind die vorhandenen Institutionen faktisch nicht alle das Ergebnis menschlichen Entwurfs (S.13). Hierzu passt das ein Zitat Montesquieus, welches Hayek dem Buch voranstellt:

"Intelligent beings may have laws of their own making; but they also have some which they never made." (Montesquieu, De l'Esprit des lois, I, p.i)

Zweitens spricht Hayek vom Faktum der menschlichen "unabänderlichen Unkenntnis des Großteils der Einzeltatsachen, welche gesellschaftliche Prozesse bestimmen" (S.15), welches oftmals gerade der Grund für die Form von gesellschaftlichen Institutionen sei. So bestehe etwa das Wirtschaftsleben einer nicht-sozialistischen Wirtschaft aus Millionen von Beziehungen und zwischen Akteuren, die im Einzelnen nicht alle bekannt sein können.

Ursprung dieser Vorstellung ist nach Hayek, dass wir alles menschlich interpretieren und eine anthropomorphe Sprache gebrauchen (S. 28f.). Wenn wir bspw. davon sprechen, "die Gesellschaft behandelt Personen " oder "der Markt hat den Zweck ", dann wird der Eindruck erweckt, die Gesellschaft sei etwas Höheres mit Bewusstsein und der Markt hätte einen Schöpfer, der ihn zu einem Zweck erschaffen hat.

evolutionärer Rationalismus

Demgegenüber stellt Hayek eine andere Theorie zur Genese von gesellschaftlichen Institutionen. Diese spricht Menschen weniger Möglichkeiten der Gestaltung zu. Institutionen seien evolutionär entstanden, teils durch bewusste, aber eben auch durch unbewusste Handlungen. Evolutionär erfolgreiche Institutionen seien etwa Handlungsweisen, "die zunächst aus anderen Gründen oder überhaupt nur zufällig aufkamen, beibehalten wurden, weil sie es der Gruppe, in der sie entstanden waren, ermöglichten, über andere die Oberhand zu gewinnen" (S.11).

Das Nichtwissen bzw. fehlende Tatsachenwissen ist im evolutionären Rationalismus zentral. Es gibt keinen Planer, da niemand Allwissen hat. Jedes Individuum einer Gesellschaft hat zugleich Kenntnis und Unkenntnis von Einzeltatsachen. Die Gesamtheit der bekannten Einzeltatsachen ist niemandem bekannt. In den Handlungen und Interaktionen kommen Einzeltatsachen im Gesellschaftsgefüge zusammen und wirken darauf. Auf diese Weise verändert sich die Gesellschaft (S.15).


Textgrundlage: F. A. Hayek, Gesammelte Schriften in deutscher Sprache. Abt. B Band 4: Recht, Gesetz und Freiheit. Mohr-Siebeck, Tübingen 2003.

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