Entropie bei Stewart/Tait und Mainländer
Das Wort Entropie ist populär. Es wird aber mit Negativem verbunden, etwa mit dem Weltuntergang. Dieser wird vielmals als unvermeidlich dargestellt, wenn auch in unterschiedlichsten Farben und Formen.
Es gibt allerdings auch Ansätze im Umgang mit dem Entropiesatz, die nicht von einer solchen Negativität geprägt sind. Darunter zum einen das Unseen Universe der schottischen Physiker Peter Tait und Balfour Stewart im 19. Jahrhundert. Sie versuchen, die Entropie in Einklang mit einer christlichen Erzählung zu bringen und rücken die Entropie auf diese Art in ein (vermeintlich) positives Licht.
Eine ganz andere Herangehensweise ist die Philosophie der Erlösung von Philipp (Batz) Mainländer. Dieser Schopenhauer-Schüler war ein Zeitgenosse dieser Physiker, ein „heroischer Pessimist“1 und beging im Einklang mit seiner eigenen Philosophie Selbstmord. Für ihn war die Negativität der Entropie eine besondere Positivität.
Die vorliegende Arbeit soll nun darstellen, wo die Schwierigkeiten des Begriffs Entropie liegen und wie mit dem damals neuen Konzept im 19. Jahrhundert umgegangen wurde, und dafür die Ansätze von Stewart/Tait und Mainländer vergleichen.
Inhalt
Entropie
Begriff
Was ist Entropie? Für einen Einstieg in dieses Thema finden sich heutzutage neben Formeln wie der in Abbildung 12 auch bekanntere Erklärungen oder Umschreibungen wie der, dass Entropie ein „Maß für Unordnung“ ist.3
Auch im populärwissenschaftlichen Buch Eine kurze Geschichte der Zeit des wohl bekanntesten Physikers unserer Zeit, Stephen Hawking, finden sich Erklärungen oder Umschreibungen für den Begriff Entropie: Zunächst nimmt er ein Puzzle als Beispiel.4 Fügt man alle Teile richtig zusammen, so erhält man einen hohen Grad an Ordnung. Wenn man dann das Puzzle als Ganzes in die Schachtel packt und diese schüttelt, so ist mit einer sehr hohen Wahrscheinlichkeit das Puzzle wieder in viele Puzzleteile auseinandergebrochen. Ein hoher Grad an Unordnung ist eben immer sehr wahrscheinlich.
Hawking nutzt den Begriff der Entropie auch, wenn er der Zeit eine Richtung gibt. Wie ein Eiswürfel bei Zimmertemperatur schmilzt und dabei die Unordnung wächst, so ist prinzipiell die Vergangenheit von der Zukunft dadurch zu unterscheiden, dass die Vergangenheit mehr Ordnung hatte als die Zukunft haben wird. Auch wendet Hawking den Begriff der Entropie für das Lesen seines Buches selbst an: Man schaffe beim Lesen mehr Ordnung durch komplexere Strukturen im Gehirn. Nach der Lektüre habe man zwei Millionen Informationseinheiten mehr als davor. Im Gegenzug sei allerdings insgesamt der Grad an Unordnung gestiegen, weil in Form von Nahrung viel „geordnete Energie“ in „ungeordnete Energie“ verwandelt wurde.5
Die diffuse Anwendung des scheinbar mathematischen Begriffs (Abbildung 1) auf Informationseinheiten im Kopf führte nun zu zwei Arten von Energie: geordnete und ungeordnete. Diese unterscheidet man danach, ob man sie nutzen kann. Während der Energieerhaltungssatz beschreibt, dass die Summe der Energie in einem geschlossenen System, also ohne Austausch mit der Außenwelt, immer gleich bleibt, so gibt es doch die Erfahrung, dass Wasser auf einem Berg eine mittels Turbinen im Wasserkraftwerk nutzbare (Lage-)Energie hat – im Gegensatz zum gleichen Wasser auf der gleichen Höhe, wenn der Berg auf gleichem Niveau mit noch mehr Wasser umgeben ist (eventuell Hochwasser). Die Energiesumme aus dem Energieerhaltungssatz setzt sich also aus der nutzbaren Exergie und der nicht nutzbaren Anergie zusammen.6 Entropie ist in diesem Sinne also die unvermeidliche Verwandlung von Exergie in Anergie.
Der Begriff Entropie wurde nun auch spätestens 1944 im Kontext der Biologie gebraucht, um grundsätzlich Lebewesen zu beschreiben: Der Physiker Erwin Schrödinger beschrieb Lebewesen als Organismen, die sich von „negativer Entropie“7 ernähren und sich so gegen den „beständig eindringenden Tod“8 wehren. Organismen leben dadurch, dass sie sich von der Entropie, die sie notwendig erzeugen, befreien.9
Wenn man sieht, wie vielfältig gebraucht man diesen Begriff heutzutage findet, nämlich auch beispielsweise in der Informationstheorie, dann ist verständlich, dass dieser Begriff im Laufe seiner Geschichte Gegenstand vieler Diskussionen gewesen ist. Umso deutlicher wird dies jedoch, wenn man seine Folgen betrachtet – und noch deutlicher, wenn man seine Folgen aus der Perspektive des noch christlicher geprägten 19. Jahrhunderts betrachtet.
Die Probleme des Begriffs Entropie sind also: Erstens kann man diesen Begriff physikalisch richtig, beispielsweise auf Verteilungstendenzen von Wärme oder Molekülen verwenden, oder aber metaphorisch, etwa mit psychologischer Relevanz angewendet auf Kultur, Gesellschaft und das eigene Leben.10 Dies liegt womöglich in der Hauptsache daran, dass der Begriff Entropie viel schwieriger zu verstehen ist als es scheint. Beispiele wie der Eiswürfel oder das Puzzle machen den Begriff sehr zugänglich, sind allerdings auch notwendig zum Verständnis.11 Vielleicht ist es – wenn auch nicht einfacher – doch wenigstens sinnvoller, sich Entropie nicht vorzustellen, wie es etwa Buchholz vorschlägt, wenn er bloß von abstrakten Teilchen spricht, die mit Wärme übertragen werden.12 Warum ist aber der Gebrauch als Metapher problematisch? Der Begriff verliert so eben an Schärfe und lädt zu unwissenschaftlichen Diskursen ein.
Zweitens widerspricht das Konzept der Entropie generell allen Überzeugungen von einem stabilen und ewigen kosmischen System, die noch am Anfang des 19. Jahrhunderts bis zur unvorhergesehenen Laufbahnveränderung eines Kometen gängig waren. Darüber hinaus stand die Entropie-Theorie im Konflikt mit der Vorstellung einer unsterblichen Seele, insbesondere dann, wenn man Materialist ist, oder aber wenn man das Konzept der Entropie nicht bloß auf Wärme reduziert. Allerdings harmonierte die Vorstellung einer „Welt im Zerfall“ insofern mit der christlichen Weltanschauung, als dass der göttliche Schöpfungsplan das Ende aller irdischen Dinge proklamierte.13 Damit wurde von einer Minderheit von Theologen die Entropie wahrgenommen als ein möglicher Ansatz für einen Gottesbeweis.14 Der Entropiesatz brachte aber auch Überlegungen an die Tagesordnung, wie auf ein baldigen Untergang der Welt zu reagieren sei: Mangels belastbarer wissenschaftlicher Ansätze oder genauer Daten wurde populär in phantasievollen Beiträgen über eine Flucht vor dem bibelkonformen Hitzetod in Richtung der Pole oder über eine Flucht vor einem Kältetod in Richtung des Äquators debattiert.15
Entropie in Stewarts und Taits „Unseen Universe“
Die beiden Autoren des populärwissenschaftlichen Unseen Universe, Balfour Stewart und Peter Tait, waren in ihren naturwissenschaftlichen Disziplinen geachtet und wurden mit bedeutenden Preisen und geehrt, unter anderem die Rumford Medal, der Smith's Prize, die Keith Medal und die Royal Medal. So waren sie sich der wissenschaftlichen Entwicklungen der Zeit nicht nur bewusst, sondern standen an vorderster Front. Wie sah nun ihre Zeit aus? Die Antrittsrede John Tyndalls zur Präsidentschaft 1874 gibt Einblick in die Debatte dieser Zeit:
„All religious theories, schemes and systems, which embrace notions of cosmogony, or which otherwise reach into the domain of science, must, in so far as they do this, submit to the control of science, and relinquish all thought of controlling it.“16
In dieser Antrittsrede spricht sich Tyndall für das Primat der Naturwissenschaften aus und weist Ansprüche von übernatürlichen oder nicht-naturalistischen Erklärungen zurück. Dies wurde als eine Rede pro Materialismus und als ein starker Angriff gegen Religionen wahrgenommen. Obwohl dies aus heutiger Perspektive merkwürdig erscheinen könnte, gab es um 1875 viele gläubige Naturwissenschaftler,17 sodass die Fronten in der emotionalen Debatte um eine mögliche Grenzziehung zwischen Religion und Wissenschaft bzw. um die Rolle der jeweils anderen Disziplin nicht eindeutig sind.
In diesem Kontext hat das publizistisch erfolgreiche Werk Stewarts und Taits das Ziel, den Materialismus aus der Wissenschaftskultur abzuwehren und Raum für ihre religiösen Überzeugungen zu erhalten. Die renommierten Professoren versuchten in dieser Debatte einen modernen Beitrag zu liefern, der alle neuen Entwicklungen aufnahm und dennoch konsistent der christlichen Religion ihren Platz zu lassen. Weder die Evolutionstheorie Darwins, welcher sie im Grundsatz nicht ablehnend gegenüberstanden, noch die Wärmelehre standen ihrer Überzeugung nach im Widerspruch zu religiösen Überzeugungen. Sowohl die Existenz eines Gottes als auch die Unsterblichkeit der Seele sollten sich kohärent zu dem wissenschaftlichen Stand ihrer Zeit verhalten.18
„Now we find that the expressions in the Scriptures regarding the future of man and the constitution of the unseen world, taken in their obvious, if not absolutely literal meaning, are not inconsistent with scientific deductions from the Principle of Continuity.“19
Stewart und Tait wollten den Streit zwischen Religion und Wissenschaft beenden, weil sie keinen Widerspruch zwischen der Bibel und der zeitgenössischen Wissenschaft sahen. Adressiert wurde mit ihrem Unseen Universe vor allem die Menschen, die sowohl der Wissenschaft nahestehen als auch gläubig sind, und möglicherweise glauben, Wissenschaft sei inkompatibel mit Religion.20 Diejenigen, die allerdings bloß auf dem Feld der Wissenschaft stehen sind genauso wenig die Zielgruppe wie die reinen Theologen ohne Bezug zur Wissenschaft. Unter ersteren sind solche, die vom „Unsinn Univers“21 sprachen und unter letzteren finden sich auch solche, die nach der Veröffentlichung Tait und Stewart das Recht absprachen, sich so über theologische Angelegenheiten zu äußern.22
Wie gehen die Autoren Stewart und Tait mit der Entropie um? Zunächst setzen sie zwei Dinge voraus: Es gibt einen göttlichen Schöpfer von allem23 und es gilt das Gesetz der Kontinuität.24 Letzteres beinhaltet a) die Regelhaftigkeit von Kausalbeziehungen, dass es b) keine Brüche in der Natur gibt, und c) dass der gütige Gott die Welt so eingerichtet hat, dass der Mensch sie und ihre Naturprozesse einsehen kann. Einer der Gründe für das Buch Unseen Universe ist nun, dass es so scheinen könnte, bzw. anderen Menschen so schien, als gäbe es einige Konflikte zwischen ihren Axiomen und dem Entropiesatz.
Drei Konflikte scheint es zwischen ihren Axiomen und dem Entropiesatz zu geben.25 Erstens stellen die aus dem Entropiesatz abgeleiteten Ereignisse des Weltbeginns und Weltendes Brüche dar, die mit dem Gesetz der Kontinuität kollidieren. Zweitens scheint es unökonomisch und einer göttlich eingerichteten Welt unwürdig, dass Energie einfach unbrauchbar oder einfach verschwendet wird, wenn sie nicht unmittelbar genutzt wird – man denke an Sonnenlicht, welches in den Weiten des Alls „verschwindet“26 und nicht etwa auf einem Kaktus landet, der dies zu einem Großteil absorbiert, für die Photosynthese nutzt und ansonsten dann grün erscheint. Drittens gibt es den Konflikt zwischen einer ewigen Seele und der Entropie.
Stewart und Tait lösen das erste Problem, in dem sie neben dem sichtbaren Universum ein unsichtbares „unseen Universe“ proklamieren. Dies ist eine höhere Ebene, wobei sie eigentlich unendlich viele höhere Ebenen benötigen, um jeweils Diskontinuitäten niedriger Ebenen aufzulösen. Das materielle Universum entstand lt. Stewart und Tait aus dem unsichtbaren Universum und geht am Ende wieder im unsichtbaren auf. Das unsichtbare Universum ist ewig, das sichtbare ist zeitlich.27 Diese beiden Welten sind miteinander verbunden und es gibt einen Austausch von Energie. Wenn beispielsweise ein Wunder geschieht, dann handelt es sich um Energie aus dem unsichtbaren Universum, welche in das sichtbare transformiert wurde.28 Und wenn gebetet wird, dann gibt es einen Energiefluss aus dem sichtbaren in das unsichtbare Universum.29
Das zweite Problem lösen die Autoren, in dem sie der scheinbar verschwendeten Energie einen Nutzen zuschreiben: Entropie erhält die Vergangenheit. So wie Gedanken und Überzeugungen sich ihrer Ansicht nach materiell ausprägen, also Spuren hinterlassen, so hinterlässt die Gegenwart durch die Entropie Spuren und bildet damit die (künftige) Vergangenheit.30 Wann immer Energie aus dem sichtbaren Universum verschwindet, landet sie im unsichtbaren Universum.31
Mit diesem Fluss von Energie aus dem sichtbaren ins unsichtbare Universum lösen Stewart und Tait auch ihr drittes Problem. Entropie dient unmittelbar dem Erhalt von Seelen bzw. ihrer Unsterblichkeit. Der Tod der Materie in der sichtbaren Welt ist die sichtbare Seite der Medaille, die Unsterblichkeit der Seele ist die unsichtbare.
Hinter allen Erwähnungen des Wortes Energie in Stewarts und Taits Werk stecken zwei unterschiedliche Begriffe, wie es auch heute noch der Fall ist. Heute kennt man die Unterscheidung zwischen Exergie und Anergie. Die Autoren kannten natürlich auch eine von der Umwelt abhängige Unterscheidung zwischen zwei verschiedenen Arten von Energie, mit dem oben bereits genannten Beispiel:
„and just as we get no work from still water if it be all at the same level, i. e., if no part of it can fall, so in like manner we can get no work from heat unless part of it can fall from a higher to a lower temperature.“32
Entropie in Mainländers „Philosophie der Erlösung“
Entropie ist ein Begriff, der stark mit dem Pessimismus verbunden war und ist. Zum einen führt er vor Augen, dass das Ende der Welt und aller Lebewesen kommen wird und ist damit eine Weltuntergangsvision mit vermeintlicher wissenschaftlicher Legitimation: Neben allen „Es geht bergab“-Metaphern ist eben bekannt, dass es mathematische Formeln gibt – seien sie auch nur dekorativ verwendet wie in der vorliegenden Arbeit.
Zum anderen scheint der Entropiesatz gerade durch den größten Verbündeten aller Optimisten den Pessimismus zu bestärken, nämlich durch den Fortschritt: Assoziiert mit einem „mehr“ an Produktion, an Umwandlung und an Geschwindigkeit reduziert der Fortschritt die Menge an nutzbarer Energie, an Exergie und beraubt sich damit selbst immer schneller der Grundlage. Je mehr Fortschritt wir erleben, desto schneller hat er ein Ende. Das sind die beiden Säulen des Entropie-Pessimismus.33
Für den Philosophen Philipp Mainländer ist Entropie allerdings eine Botschaft, die optimistisch stimmt und somit eine frohe Botschaft ist. Allerdings scheint der Optimismus eines Pessimisten auch nichts anderes als ein zynischer Pessimismus zu sein.
Während Stewart und Tait die Entropie in der sichtbaren Welt nicht nur zulassen, sondern nun sogar für ihr ganzes System brauchen, und in der metaphysischen, unsichtbaren Welt eben keine Entropie zulassen und gebrauchen können, legt Philipp Mainländers Philosophie die Entropie schon in die metaphysische Sphäre; dort verortet er die erste Ursache der Entropie.
„Der einfachen Einheit war die sofortige Erreichung des Zieles verwehrt, nicht aber die Erreichung überhaupt. Es war ein Prozeß [...] nöthig, und der ganze Verlauf dieses Prozesses lag virtualiter im Zerfall. Alles in der Welt hat demnach Ein Ziel, oder besser: für den menschlichen Geist stellt sich die Natur so dar, als ob sie sich einem einzigen Ziele entgegen bewege. Im Grunde aber folgt Alles nur dem ersten blinden Impulse [...]“34
Die einfache Einheit Mainländers, die die Entropie in Gang gesetzt hat, war für ihn Gott: Am Anfang gab es nur einen Gott, in absoluter Einsamkeit. Dieser wollte nicht existieren, hatte alle Macht, aber nicht die Freiheit, sofort in die Nichtexistenz überzugehen, also löste er sich in eine Vielheit auf und erschuf dabei die sichtbare Welt: das erste und einzige Wunder.
Die anorganischen Dinge unterliegen seit diesem Schöpfungsakt Zerfallsprozessen (Entropie) und die Lebewesen kämpfen bewusst um ihr Leben (Schopenhauers Wille zum Leben), aber unbewusst haben sie alle den Willen zum Tod.35
Nach Mainländer können sich Menschen, wie etwa er, andere Pessimisten oder natürlich Schopenhauer, bewusst werden, wie es um den Wert des Lebens bestellt ist. Er kommt zum Schluss:
„Es ist die schon oben erwähnte Erkenntniß, daß Nichtsein besser ist als Sein oder die Erkenntniß, daß das Leben die Hölle, und die süße stille Nacht des absoluten Todes die Vernichtung der Hölle ist.“36
Darum stellt er mit Leichtigkeit die These auf, dass auch ein Gott die Nichtexistenz präferiere, und heißt die Entropie auch willkommen:
„Erlösung! Erlösung! Tod unserem Leben! Und die trostreiche Antwort darauf: ihr werdet Alle die Vernichtung finden und erlöst werden“37
Die Entropie ist unausweichlich, darin sieht Mainländer eine gute Nachricht für alle. Es gibt für ihn allerdings drei Mittel, die das Leben (und damit das Leid) früher beenden. Eine individuelle Lösung ist der Selbstmord; eine größere Lösung ist die Keuschheit, mit welcher andere mögliche Menschen vor den Übeln einer Existenz bewahrt werden. Die dritte Lösung weist dagegen eine interessante Parallele zu Stewart und Tait auf: Der Kampf um einen idealen Staat, einen kommunistischen Staat ohne Ungleichheiten führt die Menschheit zu ihrem Ende;38 Stewart und Tait schreiben nämlich:
„In other words, the tendency of heat is toward equalization; heat is par excellence the communist of our universe, and it will no doubt ultimately bring the system to an end.“39
Fazit
An den unterschiedlichen Ansätzen der vorgestellten Autoren und Werken sieht man, welche Schwierigkeiten im Umgang mit dem Begriff Entropie auftreten. Es bräuchte beinahe keine Einführung mit zeitgenössischer Literatur mehr. Stewart und Tait geben einer aus heutiger Perspektive eher unwissenschaftliche Verwendung dieses Begriffs mittels ihrer Posten und ihres Prestiges große Legitimation. Es ist doch der Anspruch gewesen, wissenschaftlich über die Stellung der Entropie in einer Deutung des gesamten Daseins zu diskutieren. Sie hätten sich sicher über eine Mainländer‘sche Deutung echauffiert – ganz wie einige Theologen und Naturwissenschaftler über ihr Werk hergefallen sind.
Der Begriff der Entropie wird in unterschiedlichen Kontexten verschieden definiert, obgleich jede ihn verwendende Person das mitschwingende mathematisierte physikalische Konzept gerne akzeptiert – nicht zulasten der eigenen Reputation.
Für eine weitere Untersuchung bietet sich vor allem die in beiden Werken aufgeführte Gleichsetzung von Kommunismus und Entropie an. Dass sie im einen Fall negativ konnotiert ist und im anderen positiv, stärkt den Verdacht, dass diese Gleichsetzung möglicherweise typisch für die Zeit ist.
1 Vgl. Frederick C. Beiser, Pessimism in German Philosophy, 1860-1900, Oxford 2016, S. 201. 2 Vgl. Martin Buchholz, Energie. Wie verschwendet man etwas, das nicht weniger werden kann?, Heidelberg 2016, S. 44. 3 Ebd., S. 46. 4 Vgl. Stephen Hawking, Eine kurze Geschichte der Zeit, Hamburg 2013, S. 188. 5 Vgl. ebd., S. 196. 6 Vgl. Buchholz, Energie, S. 31 f. 7 Erwin Schrödinger, Was ist Leben? Eine lebende Zelle mit den Augen eines Physikers betrachtet., München 1987, S. 124. „Negative Entropie“ ist heute auch bekannt als „Negentropie“ und geht auf Schrödinger zurück. 8 Arthur Schopenhauer, Werke in fünf Bänden. Nach den Ausgaben letzter Hand herausgegeben von Ludger Lütkehaus. Band 1, Frankfurt 2006, S. 406. 9 Schrödinger, Was ist Leben?, S. 126. 10 Vgl. Elizabeth R. Neswald, Thermodynamik als kultureller Kampfplatz. Zur Faszinationsgeschichte der Entropie 1850-1915, Berlin 2006, S. 13. 11 Vgl. Neswald, Thermodynamik als kultureller Kampfplatz, S. 19. 12 Vgl. Buchholz, Energie, S. 46 ff. 13 Vgl. Neswald, Thermodynamik als kultureller Kampfplatz, S. 183. 14 Vgl. ebd., S. 282. 15 Vgl. ebd., S. 184-186. 16 John Tyndall, Adress Delivered Before the British Association Assembled at Belfast. With Additions, Belfast 1874, zuletzt aufgerufen am 7.3.18 unter [http://www.victorianweb.org/science/science_texts/belfast.html], S. 61. 17 Vgl. Neswald, Thermodynamik als kultureller Kampfplatz, S. 268. 18 Vgl. Moritz Epple, Die Entstehung der Knotentheorie. Kontexte und Konstruktionen einer modernen mathematischen Theorie, Wiesbaden 1999, S. 127. 19 Balfour Stewart/Peter Tait, The Unseen Universe or Physical Speculations on a Future State, New York 1876, Preface to the Third Edition. 20 Vgl. ebd., iv. 21 Vgl. Neswald, Thermodynamik als kultureller Kampfplatz, S. 278. 22 Vgl. ebd., S. 282. 23 Vgl. Balfour Stewart/Peter Tait, The Unseen Universe, S. 43 f. 24 Vgl. ebd., S. 55 f. 25 Vgl. Neswald, Thermodynamik als kultureller Kampfplatz, S. 270 f. 26 Vgl. Balfour Stewart/Peter Tait, The Unseen Universe, S. 145. 27 Vgl. Balfour Stewart/Peter Tait, The Unseen Universe, S. 25. 28 Vgl. ebd., S. 176. 29 Vgl. Neswald, Thermodynamik als kultureller Kampfplatz, S. 275. 30 Vgl. Balfour Stewart/Peter Tait, The Unseen Universe, S. 145 f. 31 Vgl. ebd., S. 110. 32. Ebd., S. 77. 33 Vgl. Neswald, Thermodynamik als kultureller Kampfplatz, S. 422. 34 Philipp Mainländer, Philosophie der Erlösung, Berlin 1876, S. 335. 35 Vgl. Damir Smiljanić, Mainländers Anleitung zum glücklichen Nichtsein, in: Winfried H. Müller-Seyfarth (Hrsg.), Anleitung zum glücklichen Nichtsein. Offenbacher Mainländer Essay-Wettbewerb 2005, Würzburg 2006, S. 25. 36 Philipp Mainländer, Philosophie der Erlösung, Berlin 1876, S. 216. 37 Ebd., S. 335. 38 Vgl. Fabio Giraci, Die Gelassenheit im Rahmen des Quietismus Eduard von Hartmanns und Philipp Mainländers, In: Jahrbuch der Schopenhauer-Gesellschaft 2009, S. 186. 39 Balfour Stewart/Peter Tait, The Unseen Universe, S. 84.