Die drei Probleme der Wahlrechtsreform
Das Wahlrecht zum Deutschen Bundestag ist seit 1953 zu kompliziert und den Urteilen des Bundesverfassungsgerichts nach nicht verfassungskonform. Mit der Reform des Wahlrechts soll insbesondere letzteres gelöst werden. Aber es bleiben alte und es entstehen neue Probleme mit der Wahlrechtsreform.
Zunächst ein kleiner Über- und Rückblick: Bislang wurden Personen- und Verhältniswahl gemischt. Mit der Erststimme wählte man einen Kandidaten aus dem Wahlkreis direkt und mit der Zweitstimme wählte man eine Partei. Die entscheidende Stimme war die Zweitstimme, da sie das Verhältnis der Sitze im Parlament bestimmte.
Ein Beispiel:
Erststimme | Zweitstimme | |
Partei A | 70 % | 30 % |
Partei B | 20 % | 40 % |
Partei C | 10 % | 30 % |
Partei A gewinnt 70 % aller Erststimmen, erhält allerdings nur 30 % der Sitze im Bundestag. Der entscheidende Wert ist nämlich der Zweitstimmenanteil. Partei B hat wenige Erststimmen erhalten, darf aber 40 % der Sitze im Parlament besetzen. Viele Wähler haben eben andere Wahlkreisvertreter direkt gewählt, wollten aber dennoch Partei B im Bundestag haben. Bei Partei C ist es noch extremer: Vielleicht hat diese Partei wenige Wahlkreiskandidaten, kann allerdings dennoch 30 % der Zweitstimmen erringen.
Das Problem, das zu dieser Reform führt, ist in diesem Fall die Partei A: Da die Wahlkreisvertreter, die durch die Erststimme gewählt wurden, zahlenmäßig dem Erfolg der Partei A in der Zweitstimme zu überlegen sind, ist die Partei überrepräsentiert. Die Partei darf nur nach der Zweitstimme 30 % der Bundestagsmandate besetzen, aber mittels Erststimme werden es deutlich mehr. (Das ist etwas vereinfacht. Hier ist eigentlich zu berücksichtigen, dass von 598 Mandaten nur 299 über die Wahlkreise/Erststimme zu wählen sind, aber die Zweitstimme insgesamt die Verteilung der 598 geplanten Sitze bestimmt.) Die zu viel errungenen Mandate nennt man Überhangmandate. Damit die Zweitstimmenergebnisse wieder die Verteilung im Parlament bestimmen, müssen diese durch Ausgleichsmandate ausgeglichen werden. Also erhalten Partei B und C zusätzliche Mandate. Dadurch wird der Bundestag viel größer, als er sein sollte. Meistens hat die Union (CDU/CSU) mehr Erststimmenanteile als Zweitstimmenanteile und ist in diesem Beispiel Partei A.
Eine Lösung könnte das Grabenwahlsystem sein: 50 % der Sitze werden über die Wahlkreise besetzt, also direkt gewählt, und 50 % über die Wahl der Parteien (Listen). Die Verrechnung fände unabhängig statt und im Bundestag sähe das dann so aus:
Erststimme | Zweitstimme | Bundestagssitzverteilung | |
Partei A | 70 % | 30 % | 50 % |
Partei B | 20 % | 40 % | 30 % |
Partei C | 10 % | 30 % | 20 % |
Partei A erhielte dann 50 % der Sitze (70 % von 50 % + 30 % von 50 % = 0,7*0,5+0,3*0,5 = 0,5), Partei B erhielte 30 % der Sitze und Partei C 20 %.
Eine andere Lösung ist es, die Zweitstimme nicht nur zur maßgeblichen Stimme zu machen, sondern alles, was eine Partei über das Zweitstimmenergebnis hinaus erhält, bzw. was nicht über den Erfolg bei der Zweitstimme gedeckt ist, zu ignorieren. In diesem Fall erhielte Partei A nur einen kleinen Anteil der direkt gewählten Wahlkreise, nämlich die mit den meisten Stimmen. Viele Wahlkreise werden in der Folge einen Kandidaten direkt wählen und er wird dennoch nicht ins Parlament einziehen – nämlich dann, wenn die Partei des Kandidaten insgesamt nicht erfolgreich genug ist. Es wird dafür keine Überhangs- und Ausgleichsmandate mehr geben. Diesen Weg geht die Ampel-Regierung mit der Wahlkreisreform. Zwei andere wichtige Änderungen sind: Parteien, die bundesweit weniger als 5 % erhalten, werden nicht darüber gerettet, dass sie drei Wahlkreise gewinnen (Grundmandatsklausel wird gestrichen). Außerdem werden Erst- und Zweitstimme in Wahlkreisstimme und Hauptstimme umbenannt. Der letzte Punkt ist sicherlich einer der lobenswerten Aspekte der Reform durch die Ampel. Die Begriffe "Erst- und Zweitstimme" waren seit ihrer Einführung 1953 irreführend, wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung schreibt:
"Wie 1949 gibt der Wähler seine Stimme für einen der Kandidaten in seinem Wahlkreis ab. Anders aber als vor vier Jahren kann er eine weitere Stimme, die "Zweitstimme", für die Landesliste einer Partei abgeben. Der Wähler von 1953 kreuzt auf seinem Wahlzettel erstens den Namen eines Kandidaten und zweitens die Liste einer Partei an. Das einemal trifft er seine Wahl unter den Bewerbern um das Bundestagsmandat seines Wahlkreises, das anderemal wählt er unter den Listen der Parteien. Die Erststimme ist die "Wahlkreis-", die Zweitstimme ist die "Listenstimme" des Wählers. Man kann nicht sagen, daß dieses Verfahren für den Wähler unverständlich oder zu schwierig wäre. [...] Die Zweitstimme, die auf die Liste abgebene Stimme des Wählers, ist demnach eigentlich die Erststimme, die entscheidende. Zwar werden 242 Abgeordnete in den 242 Wahlkreisen, 242 Abgeordnete auf Listen gewählt, aber die Wahlkreismandate werden auf die Listenmandate angerechnet." (Aus: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 07.07.1953, S. 2. Hervorhebungen: M. Crass)
Dennoch bleiben Probleme:
Erstes Problem: Eine zu hohe Komplexität ist nicht demokratisch.
Die Wahl des Wahlkreisvertreters in einem Wahlkreis ist durch die Reform nicht mehr vom Wahlkreisergebnis abhängig, sondern von anderen Wahlkreisen. Insbesondere sehr umkämpfte Wahlkreise haben eine geringe Chance über die Erststimme bzw. neue Wahlkreisstimme im Bundestag vertreten zu sein. Es ist nicht mehr einfach verständlich, wer ein Mandat erringt. Das grundlegend einfache Prinzip, dass der Kandidat mit den meisten Stimmen im Wahlkreis einen Sitz im Bundestag erhält, gilt nicht mehr.
Zweites Problem: Regionale Unterschiede im föderalen Staat werden nicht mehr berücksichtigt.
Mit der Aufhebung der Grundmandatsklausel werden föderale Aspekte, die durch das Grundgesetz (Artikel 20 Absatz 1 GG) geschützt sind, ignoriert. Die Bundesrepublik Deutschland ist kein Zentralstaat. Die 5 %-Hürde sollte landesweit gelten und nicht bundesweit. Wenn eine Partei in einem Bundesland eine große Bedeutung hat (und eventuell nur in diesem einen), sollte sie nicht eine bundesweiten Hürde überspringen müssen. 5 % im Bund als Regionalpartei zu erreichen ist eine große Hürde. Bislang galt die Grundmandatsklausel, wodurch 3 Wahlkreisgewinne ausgereicht hatten, um der Partei den Einzug in den Bundestag zu sichern. Die Linke, die Partei des Demokratischen Sozialismus, die Deutsche Partei und die Deutsche Zentrumspartei sind dadurch bei Wahlen "gerettet" worden. Die Linke übrigens zuletzt 2021.
Drittes Problem: Einige Wahlkreise werden wahrscheinlich nicht im Bundestag vertreten sein.
Alle Wahlkreise sollten im Deutschen Bundestag vertreten sein. Die Reform der Ampel macht es wahrscheinlich, dass das nicht mehr der Fall sein wird.
Lösung
Wenn man Mehrheits- und Verhältniswahlsystem behalten möchte und ein Wahlsystem haben möchte, das jeder versteht, und das der implizierten Bedeutung der zwei Stimmen auch wirklich gerecht wird, muss man Parallel voting/Grabenwahlsystem einführen. Ansonsten muss man eine der drei Bedingungen kippen. Letztendlich bedeutet es, dass Erst- und Zweitstimme voneinander getrennt sind. 299 Wahlkreise wählen ihre Abg. nach Mehrheitswahl und unabhängig davon werden nach Verhältniswahl anderen 299 Sitze nach Listen verteilt. Keine Überhangmandate und daher auch keine Ausgleichsmandate. Immer 598 Sitze.