Der Nutzen von Omen in der mesopotamischen Politik

  • Von Michael Crass
  • 7. April 2018

Heute erscheint es Politikern und Politikberatern nicht mehr ominös, wenn eine Sonnenfinsternis eintritt oder eine Schafsleber Häutchen, Blasen oder Löcher an gewissen Stellen hat. Schon gar nicht würde man heute solche "Omen" in Verbindung mit gegenwärtiger Politik bringen. In der Antike war es dagegen üblich, ständig in den (Nacht-) Himmel zu schauen und regelmäßig Schafe für die Begutachtung ihrer Lebern zu schlachten, um herauszufinden, wie die Götter die Handlungen, Pläne und Absichten der Regenten bewerteten. Aus der heutigen Sicht ist dies in höchstem Maße irrational und absolut nicht zielführend. Da stellt sich die Frage, wie dieses Mittel der Politik über Tausende von Jahren überleben konnte.

bewährter Blick in die Zukunft

Babylonische und assyrische Könige ließen den Himmel an vielen Stationen in ganz Mesopotamien beobachten, um Zeichen der Götter sofort zu erhalten. Dafür war es notwendig, astronomisches Wissen zu haben, und auch Kalender zu entwickeln. Die Deutungen der Himmelsbeobachtungen wurden dann aus dem ganzen Land an den Palast geschickt, mit anderen abgeglichen und in Bezug auf das politische Handeln und Wollen interpretiert. Ebenso wurden täglich viele Schafe für die Untersuchung ihrer Lebern geschlachtet. Auch die dort gefundenen Zeichen wurden im Hinblick auf die Politik interpretiert.

In Mesopotamien ging man davon aus, dass die Götter über die Zeichen am Himmel oder etwa in Tierlebern auch Informationen über die umliegenden Feinde mitteilten. Das Wissen der Divination, also der Prophezeiungen oder der Wahrsagerei, war damit von höchstem Interesse des Staates.

Die mesopotamische Kultur überstand mindestens einen Zeitraum von 3.000 Jahren und erschien damit innerhalb dieser, aber auch außerhalb als überlegen. Damit muss auch die Divination als Teil des politischen Prozesses überlegen gewirkt haben.

politische Prozess

Ein politischer Prozess erscheint überlegen, wenn er dem politischen System sichtbar nutzt oder wenigstens nicht offensichtlich schadet. In jedem Fall ist aber klar, dass ein politisches System viel Glück mit äußeren Faktoren haben muss, wenn seine Prozesse nicht nützlich oder sinnvoll sind. Aus heutiger Sicht ist es natürlich befremdlich, vor einer politischen Entscheidung Götter zu befragen, oder sie im Nachhinein nach einer Bewertung zu fragen. Der Zusammenhang zwischen einem solch irrationalen Prozess und einer erfolgreichen Politik erschließt sich nicht sofort. Es gibt allerdings einige Aspekte, die zu beachten sind, wenn man den Nutzen der Divination innerhalb des Prozesses erschließen will:

  • Ein politisches System und dessen Stabilität basieren auf Vertrauen in die entscheidenden Institutionen. Sollten Regierungschefs oder Staatsoberhäupter (in Mesopotamien in Personalunion) Verfahren nutzen, die der Bevölkerung oder wenigstens der Elite des Landes suspekt sind, so erhöht das nicht die Stabilität des politischen Systems. In der Bevölkerung selbst war es üblich, die Götter bei wichtigen Entscheidungen zu fragen oder bei Problemen zu bitten.
  • Dazu kommt, dass beispielsweise in militärischen Fragen Vertrauen in gefasste Entscheidungen wichtig ist: Es hilft, wenn man von einem Plan und den ihm zugrunde liegenden Entscheidungsgrundlagen überzeugt ist. Mit einem göttlichen "Ok" kämpft es sich vielleicht einfacher.
  • Wann immer ein Staat Erfolg hat, muss dieser auf die entscheidenden Prozesse innerhalb des Staates zurückzuführen sein. Wenn die Elite davon überzeugt ist, dass die Himmels- oder Leberschau in der Vergangenheit zu Erfolgen geführt hat, und Misserfolge auf einen falschen Umgang mit dieser Technik zurückgeführt werden können, glaubt sie gerne an die Divination. Eine solche Deutung ist sicher einfach. Wie bei (anderen) Aberglauben kann man sie so oder so interpretieren, und überhaupt muss man nicht jedes Ereignis oder Ergebnis bewusst in Zusammenhang mit einem Glauben bringen.
  • Zugleich wurde die Divination so in den politischen Entscheidungsprozess eingebaut, dass sie Raum für rationale Überlegungen zuließ:
    • Zunächst wurden Pläne direkt so gefasst, dass sie auf mögliche Schwächen untersucht wurden. Man wollte den Göttern insofern zuvor kommen, als dass man schon Schwachstellen eliminiert hatte. Die Autorität des Königs und seine persönlichen Wünsche oder Ziele überstrahlten dabei nicht alles, obwohl seine Beamten ihm sicherlich alles recht machen wollten. Im Großen und Ganzen ging es aber nicht um einen König, sondern um die Götter. Dadurch wurde zwanglos sachlich diskutiert.
    • Falls Mittel wie die Leberschau zu negativen Resultaten führten und ein Plan damit von Göttern abgewiesen wurde, überdachte man einen Plan und suchte abermals, was gut und was schlecht am Plan war. Er wurde damit öfter diskutiert. Es gab keine Schnellschüsse wie etwa vielleicht in der heutigen US-Politik. Auch hat kein Einzelner alleine Entscheidungen gefällt, da es ein größeres Gremium bedurfte, um die göttlichen Bescheide zu deuten.
  • Durch den permanenten Blick zum Himmel und die Deutung aller Omen wurde die Politik des Staates immerzu hinterfragt. Jedes Zeichen wurde zum Anlass genommen, vergangene politische Entscheidungen und ihre Folgen zu diskutieren. Die mesopotamische Kultur befand sich damit stets in einem reflektierenden Prozess. Frühere Fehlentscheidungen konnten damit korrigiert werden, bevor sie zu ernsthaften Schwierigkeiten führten.

Fazit

Es braucht keinen Glauben an Übernatürliches, um dem politischen Prozess in Mesopotamien einiges abgewinnen zu können. Auch vermeintlich schlechte Annahmen können zu guten Resultaten führen, wenn die anderen Faktoren gut sind. In Mesopotamien überlebte über einen sehr langen Zeitraum ein Denksystem, in dem sich einzelne Menschen weniger überschätzen konnten und die Sache über Einzelnen stand. Politische Entscheidungen profitieren von offenen und sachlichen Diskussionen.


Literatur: Stefan M. Maul: Die Wissenschaft von der Zukunft, in: Cancik-Kirschbaum/Van Ess/Marzahn 2011.

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